In Kürze: Migration ist ein zeitloses Phänomen, das seit 120.000 Jahren zur Menschheitsgeschichte gehört. Entgegen der Annahme, dass heute mehr Menschen migrieren, sind die Migrationszahlen konstant niedrig geblieben. Die Gründe, warum Menschen migrieren, sind vielfältig –bessere Lebensbedingungen, Schutz vor Naturkatastrophen, Kriegen und Diskriminierung. Migration hat sogar erheblich zum menschlichen Fortschritt beigetragen. Obwohl jede Generation die aktuelle Migration als besonders bedrohlich empfindet, zeigt die Geschichte, dass diese Ängste unbegründet sind. Eine historisch fundierte Diskussion über Migration ist daher notwendig.
Seit einigen Jahren sind Migration und die Diskussionen um ihre Folgen allgegenwärtig. Politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich ist sie eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Voraussichtlich wird sich dies auch in den nächsten Jahrzehnten nicht ändern und Migration wird eine der entscheidenden Aufgaben des 21. Jahrhunderts sein. Nicht selten wird dabei aber vergessen, dass Migration nicht nur gegenwärtig präsent ist und in Zukunft relevant sein wird, sondern sie es schon immer war.
Seit der Mensch vor etwa 120.000 Jahren Afrika verlassen und sich im Laufe der Zeit auf der ganzen Welt niedergelassen hat, gehört das Phänomen Migration zur Geschichte der Menschheit. Der Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer bringt es auf den Punkt: „Menschheitsgeschichte ist Migrationsgeschichte.“ Dies anzuerkennen, kann viel dazu beitragen, die gegenwärtigen Diskussionen, die sich um Folgen und Herausforderungen von Migration drehen, einzuordnen und mit kühlem Kopf anzugehen.
Weltweit unterwegs
Zunächst hilft es, sich die Dimensionen des Ganzen näher anzuschauen. Der Eindruck, dass heute mehr Menschen als je zuvor in regelrechten „Migrationsströmen“ vom globalen Süden nach Europa zögen, ist schlichtweg falsch.
Das Ausmaß der grenzüberschreitenden Migration ist in den letzten Jahrzehnten nicht angestiegen, sondern konstant niedrig geblieben.
So lag die Zahl von Migrant:innen fast immer bei etwa 0,6 Prozent der Weltbevölkerung (Ausnahme: Migrationsbewegungen nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“).
Selbst Migration als globales Phänomen ist absolut nichts Neues. Gegenteilige Behauptungen sind zwar hartnäckig, aber eben reiner Mythos. So gibt es Wanderungsbewegungen auf globaler Ebene seit dem 15. Jahrhundert, als europäische Mächte ihre Herrschaftsbereiche zunehmend in andere Teile der Erde ausdehnten. In unterschiedlicher Intensität migrierten Menschen seither von Europa aus in die ganze Welt – und ab Ende des 19. Jahrhunderts kamen zunehmend auch Menschen aus anderen Teilen der Welt hierher. Migration über geringe Distanzen hinweg ist natürlich noch viel älter.
Zeitloser Antrieb
Werfen wir einen Blick auf die Gründe, warum Menschen migrieren, stellen wir schnell fest, dass es immer wieder in der Geschichte auftauchende und im Grunde zeitlose Anlässe sind:
- die Aussicht auf bessere Siedlungs-, Wohn- und Arbeitsverhältnisse
- die Suche nach Zufluchtsorten vor Naturkatastrophen oder vor schlechteren klimatischen Bedingungen
- Flucht und Vertreibung infolge von Kriegen
- Diskriminierung und Verfolgung aus rassistischen, religiösen oder ideologischen sowie politischen Gründen
- der Wunsch nach persönlicher Freiheit und Selbstverwirklichung sowie schlicht Abenteuerlust
Das nicht zu allen Zeiten alle Gründe gleich stark auftraten, ist klar.
Auch wenn Migration an sich ein zeitloses, die Geschichte der Menschheit begleitendes Phänomen ist, gilt es deshalb deutlich zu betonen, dass es „die Migrant:innen“ nicht gibt – weder heute, noch in der Vergangenheit.
Denn Menschen wurden und werden aus den verschiedensten Gründen zu Migrant:innen, manchmal freiwillig, manchmal gezwungenermaßen.
Bewegung durch Zeit und Raum
Ebenso wird durch den Blick in die Vergangenheit deutlich, dass historische Migrationsprozesse in den meisten Fällen unvorhersehbar waren, nicht anders als heute. Ursprüngliche Reiseziele ändern sich; aufgrund enttäuschter Hoffnungen müssen Pläne völlig umgeworfen oder ersetzt werden; Reisen werden ganz abgebrochen; eine Rückkehr wird aufgrund des Scheiterns in der Fremde nötig. So ist Migration eher ein dauerhaftes Ein- und Auswandern, selten ein einmaliges Ankommen und Bleiben.
Den Beitrag, den Wanderbewegungen dabei zum menschlichen Fortschritt an sich geleistet haben, ist nicht zu unterschätzen. Denn Migrant:innen waren oft Vermittelnde zwischen der alten und der neuen Heimat, sodass technisches oder technologisches, ökonomisches, ideologisches oder kulturelles Wissen und Erfahrungen über Grenzen hinweg gewandert sind.
In jeder Generation aufs Neue
Auch wenn sich die historische Migrationsforschung zunächst vor allem auf das 19. und 20. Jahrhundert konzentriert hat, untersuchen Historiker:innen mittlerweile genauso Wanderbewegungen in der Frühen Neuzeit, dem Mittelalter und der Antike. Konkrete historische Beispiele gibt es unendlich viele. Hier eine kleine Auswahl:
- die griechische Kolonisation im Mittelmeerraum zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v.Chr.
- die Völkerwanderung zwischen dem 4. und dem 6. Jahrhundert am Übergang von der Antike zum Mittelalter
- die Auswanderung von Europäer:innen im Zuge der europäischen Expansion und des Kolonialismus ab dem 15. Jahrhundert sowie der Sklavenhandel von Afrika in die Amerikas
- die Besiedlung Sibiriens durch russische Wanderarbeitende oder westeuropäische Einwanderer:innen bis ins 18. Jahrhundert hinein
- die Einwanderung von Han-Chines:innen und Koreaner:innen in die Mandschurei in den 1920er und 30er Jahren
- Flucht und Vertreibung in Europa im Zuge und nach dem Zweiten Weltkrieg
Ein erhellender Punkt, den der Blick auf Migration als historisches Phänomen schließlich verdeutlicht, ist der Umstand, dass Zeitgenoss:innen, so der Historiker Michael Mayer, die jüngste Wanderungsbewegung in der Regel als die beängstigendste einschätzen. Wenn diese Wahrnehmungen aber zu so unterschiedlichen Zeiten korrekt gewesen wären, hätte „das Abendland“ ja schon lange untergehen müssen.
Migration und die Herausforderungen, die mit ihr einhergehen – und die gibt es ohne Frage –, müssen ernst genommen werden. Aber der Umgang damit darf nicht hysterisch und zu kurz gedacht sein. Der Blick in die Vergangenheit kann helfen, diese Diskussion besonnen zu führen.