Das Gegenüber in den Blick nehmen

Datum: 22.11.2023

  • Polarisierung
  • Politisch Andersdenkende
  • Haltung
  • Debattenkultur
  • Grundlagen

In Kürze: In politisch aufgeladenen Situationen lohnt es sich, die Beweggründe hinter kontroversen Aussagen zu erforschen. Laut Marshall B. Rosenbergs Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation handeln Menschen stets „aus gutem Grund“. Hinter jedem menschlichen Handeln stehen also Bedürfnisse und Werte, die erfüllt werden möchten. Die Herausforderung besteht darin ehrliches Interesse am Anderen zu zeigen, unabhängig von politischen Standpunkten. Dabei ist es wichtig, Aussage und Person zu trennen. Das Eisbergmodell ermöglicht einen Blick unter die Oberfläche, um die Bedürfnisse des Gegenübers zu verstehen. Verständnis bedeutet auch ein Gespräch auf Augenhöhe durch aktives Zuhören. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit für einen offenen Dialog und die Erkundung alternativer Perspektiven.

Haben Sie Menschen in Ihrem Umfeld, die bestimmten Aussagen und Standpunkte teilen, die Sie politisch für schwierig halten? Und haben Sie eine Idee, was diese Personen dazu bewegt? Aus unserer Sicht lohnt es sich, diesen Beweggründen nachzugehen. Warum, erklären wir Ihnen hier.

Auch wenn es schwerfällt: Es gibt immer einen guten Grund

Auf der Familienfeier, in der Büroküche oder auf dem Elternabend sagt jemand etwas Diskriminierendes. Sie sind irritiert und können sich nur schwer vorstellen, dass der getroffenen Aussage ein guter Grund zugrunde liegt? Nach Marshall B. Rosberg ist aber genau das der Fall:

Rosenberg vertritt in seinem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation die Position, dass Menschen immer „aus gutem Grund“ handeln.

Damit ist gemeint, dass all unserem Handeln immer etwas zugrunde liegt, ein Bedürfnis, etwas, das uns antreibt. Das, was wir tun oder sagen, soll unser Bedürfnis erfüllen. Es geht für uns um etwas Wichtiges und soll uns etwas Gutes tun. Nicht immer wählen wir (oder eben andere) in der Situation jedoch den richtigen Weg, die richtigen Worte oder den richtigen Tonfall. Vielleicht ist uns nicht bewusst, welche Wirkung das Gesagte auch haben kann.

Entsprechende Aussagen, die Sie als problematisch empfinden, sind demnach der mehr oder weniger gelungene Versuch der anderen Person, die eignen Bedürfnisse und Werte zu befriedigen. Die „guten Gründe“ können von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Zielführend wäre es nun diese herauszufinden: Welche Bedürfnisse und Werte werden in diesem Moment erfüllt? Und, noch wichtiger, gäbe es einen anderen Weg sich dieses Bedürfnis zu erfüllen? Hat mein Gegenüber diese Möglichkeit eigentlich auf dem Schirm? Und ist meinem Gegenüber eigentlich klar, welche Wirkung die getroffene Aussage haben kann?

Aussage und Person trennen

Ein erster Schritt kann ein ehrliches Interesse am Anderen sein. Ehrlichkeit im Sinne von: Sie möchten wirklich verstehen wollen, warum eine Person etwas Bestimmtes sagt oder tut – unabhängig davon, ob rechtspopulistische und diskriminierende Aussagen getroffen werden oder jemand eine bestimmte Partei wählt.

Das Gegenüber merkt sehr schnell, wenn das Interesse unehrlich und unecht ist. Deshalb ist es erforderlich, sich die eigenen Annahmen und die eigenen Vorurteile über die Person, bewusst zu machen und diese abzulegen. Sich davon freizumachen ist gar nicht so einfach. Aber es ist eine Voraussetzung, um aufrichtig und ehrlich Interesse am Gegenüber aufzubringen. Helfen kann dabei, dass Sie „Aussage und Person“ trennen: Die Aussage ist problematisch, nicht die Person!

Der innere Eisberg unseres Gegenübers

Im zweiten Schritt nehmen Sie Ihr Gegenüber genauer in den Blick. Dabei hilft das Eisbergmodell

Um zu verstehen, warum ein Mensch bestimmte Dinge sagt und tut, ist es erforderlich unter die Wasseroberfläche zu schauen: Welche Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche liegen dem Verhalten der Person eigentlich zugrunde? Diese Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche sind selten offensichtlich und auch der Person selbst meist nicht in vollem Umfang bewusst. Dabei können Sie nur Vermutungen über Ihr Gegenüber treffen. Ihre Annahmen über die Bedürfnisse der anderen Person sind keine Tatsachen. Im gemeinsamen Gespräch können Sie verschiedene Möglichkeiten abklären.

Verständnis heißt nicht einverstanden sein

Wir sind der Meinung, dass man nur mit einem ehrlichen Interesse an den Beweggründen weiterkommt. Dieses „Verstehen wollen“ ist nicht gleichzusetzen damit, Verhalten zu entschuldigen oder gar mit der entsprechenden Handlung einverstanden zu sein.

Ausgehend von den Überlegungen nach dem Eisbergmodell und einem ehrlichen Interesse können die Gesprächspartner:innnen gemeinsam überlegen, ob es auch andere Wege gäbe, die entsprechenden Bedürfnisse zu erfüllen oder somit der Person, die eine entsprechende Aussage getätigt hat, eine neue Perspektive aufzeigen.

Erstmal richtig zuhören

Dabei wird sich zeigen, dass die innere Gefühlswelt eines Menschen auch völlig anders sein kann, als wir uns sie vorstellen. Wenn sich unser Gegenüber nicht richtig verstanden fühlt, merkt man das meist schnell. Vielleicht hilft dann, zunächst noch mehr zuzuhören. Zuhören bedeutet zum einen nicht selbst zu reden, sondern abzuwarten, und zum anderen das Gesagte nicht sofort zu kommentieren. Das klingt banal, gelingt aber trotzdem nicht immer und muss eingeübt werden. Denn die eigenen Perspektiven und Annahmen sind geprägt von den eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen und erschweren das Zuhören. Man hört das, was man hören will, oder ist schnell dabei, die eigenen Annahmen bestätigt zu sehen.

Aber auch die Reaktion auf das Gehörte ist essenziell: Mit klarer Kante, Abwehr und Ausschluss verhärten sich die Fronten. Die Bereitschaft, unsere Positionen anzuerkennen und vielleicht zu übernehmen, wird kleiner.

Wenn es hingegen gelingt, das Gegenüber in den Blick zu nehmen, und zwar offen und auf Augenhöhe, dann ergibt sich daraus die Chance eines echten Dialoges. Ein Dialog, der zum Nachdenken anregt. Ein Dialog, in dem beide bereit sind, die eigene Position und das Gesagte zu überdenken und sich für andere Perspektiven und Meinungen zu öffnen.

Literatur

  • Rosenberg, Marshall B. (2016): Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens.