In Kürze: Der Kommunikationspsychologe Friedman Schulz von Thun und der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sprechen im Interview über die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Kommunikation in Politik und Gesellschaft. Am Beispiel von Putin und Selenskyj verdeutlichen sie den Unterschied zwischen militärischer Macht und medial vermittelter Realität. Dabei spielen im Zeitalter der Digitalisierung neue Technologien und Widerlegungen von Desinformationen eine Rolle. Das Interview beleuchtet auch die Dilemmata in der deutschen Regierung und analysiert unterschiedliche Kommunikationsstile von Politiker:innen. Schulz von Thun und Pörksen sind beide Preisträger von „Gegen Vergessen Für Demokratie“ 2021.
Mit dem Modell des Kommunikationsquadrates ist der Hamburger Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun international bekannt geworden. Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat sich vor allem aus systemischer Sichtweise mit den Inszenierungsstilen in Politik und Medien und dem Wandel der Kommunikation in der vernetzten Gesellschaft befasst. In seinem vielbeachteten Buch „Die große Gereiztheit“ (2018) analysiert er die Erregungsmuster des digitalen Zeitalters und entwirft eine konkrete Utopie der Medienmündigkeit. Gemeinsam sind Schulz von Thun und Pörksen Träger des Preises „Gegen Vergessen Für Demokratie“ 2021.
Herr Pörksen, wie hat der Krieg gegen die Ukraine aus Ihrer Sicht die öffentliche Kommunikation verändert?
Bernhard Pörksen: Wir haben es gerade mit zwei Wirklichkeiten zu tun, mit der der militärischen Macht und mit der medial vermittelten. Diese beiden Realitäten sind keineswegs deckungsgleich. Militärisch dominiert Wladimir Putin das Geschehen, medial ist es im Westen Wolodymyr Selenskyj, der mit außerordentlichem Geschick in den Parlamenten der Welt auftritt und sein Publikum zielgenau adressiert. Dabei handelt es sich um eine Konfrontation zweier Personen, die im Auftreten nicht unterschiedlicher sein könnten. Präsident Selenskyj agiert nahbar, authentisch, mit dem Charisma der Verletzlichkeit. Dagegen wirkt Wladimir Putin unnahbar, an einem riesenhaften Tisch sitzend, seine Untergebenen maßregelnd. Es ist zudem der erste Krieg in Europa, der unter Social- Media-Bedingungen stattfindet.
„Das bedeutet, dass das Kriegsgeschehen mit Hilfe von Videos und Bildern eine ganz neue emotionale Nähe und Dringlichkeit erhält. Die Position des unbeteiligten Zuschauers ist unter diesen Medienbedingungen kaum noch möglich.“
Sie sagen, Wolodymyr Selenskyj ist in der medialen Kommunikation überlegen. Aber auch Putin arbeitet viel über Social Media und das Fernsehen.
Bernhard Pörksen: Man kann das, was Putin tut, als ein furchtbares Medien- und Menschenexperiment beschreiben. Mit Blick auf die eigene Bevölkerung versucht er, die Wahrnehmung über massive Einschüchterung, Attacken auf Oppositionelle, sogenannte Anti-Fake-News-Gesetze und das Abschalten westlicher Plattformen und die Produktion massiver Propaganda über das Staatsfernsehen zu lenken. 80 Prozent der Russinnen und Russen empfangen ihr Bild über den Krieg aus dem staatlichen Fernsehen. Aber im Westen verfangen die Narrative Putins so gut wie gar nicht, also die Rede von den angeblichen Nazis in der Ukraine oder die Behauptung, man werde dort mit Freude empfangen. Die Tatsache, dass einige Querdenker in den Katakomben ihrer Telegramkanäle nach wie vor die russischen Propagandaerzählungen verbreiten, ist für mich kein Beleg für das Gegenteil. Auf der Ebene des Informationskriegs scheitert die russische Seite im Westen.
Woran liegt das?
Bernhard Pörksen: Aus meiner Sicht liegt es an der neuen Geschwindigkeit, mit der Fake-Narrative widerlegt werden. Dies geschieht in einem Zusammenspiel von neuen Medientechnologien, etwa den Satellitenbildern, welche die Truppenbewegungen sehr genau zeigen. Denken Sie nur an die Situation unmittelbar vor Kriegsbeginn zurück. Wenn der Kreml behauptet: „Wir marschieren nicht in die Ukraine ein“, und man sieht gleichzeitig, wie die Truppen aufziehen, ist das eine unmittelbare Widerlegung in Echtzeit.
Ein anderes Beispiel: Es gab gleich nach Kriegsbeginn einen Hackerangriff auf eine ukrainische Nachrichtenwebseite, auf der ein sogenanntes Deep Fake Video platziert wurde, in dem Selenskyj angeblich die Kapitulation erklärte und seine Soldatinnen und Soldaten angeblich aufforderte, nach Hause zu gehen und die Waffen niederzulegen. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Das Video war nicht nur schlecht gemacht, sondern Selenskyj hat sofort mit einem eigenen Selfievideo reagiert und das Video als Fälschung benannt. Überdies waren die Ukrainnerinnen und Ukrainer gewarnt – man rechnete damit, dass eine solche Fälschung auftauchen könnte. Von dieser Vorabimpfung gegen Desinformation könnten wir auch für andere gesellschaftliche Konfliktfelder lernen, etwa für die Auseinandersetzung mit fanatisierten Impfgegnern oder Klimawandelleugnern. Bislang ist die Bekämpfung von Fake News allzu reaktiv, wir hoppeln hinterher.
Herr Schulz von Thun, Sie haben die kommunikationspsychologischen Grundsätze entwickelt, einerseits dem Gegenüber empathisch und wertschätzend zu begegnen und andererseits den Mut zu Streit und konfrontativem Verhalten aufzubringen. Gelten diese auch gegenüber einem Aggressor wie Wladimir Putin, wenn man Wege sucht, aus dieser grausamen Kriegssituation kommunikativ wieder herauszukommen?
Friedemann Schulz von Thun: Empathie und Wertschätzung bleiben einem derzeit im Halse stecken. Aber auch im Umgang mit dem Feind und mit dem Massenmörder gilt es zu beachten, dass er Macht hat. Kommunikation bleibt weiter wichtig – so wie sie wichtig bleibt mit einem Geiselnehmer, der sich eingeschlossen hat und seine Opfer zu erschießen droht. Da gilt es, deutliche Ächtung und entschiedene Abwehr zu zeigen, aber auch Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren. Wer nur die Verhandlungsbereitschaft kennt, ist in Gefahr, ins Appeasement abzugleiten. Hier haben wir in der Geschichte bereits historisches Versagen erlebt. Und wer nur die militante Abwehr kennt, ist in Gefahr, eine kriegerische Eskalation zu befördern. Aber aus meiner Sicht haben unsere politischen Entscheider diese Zusammenhänge im Blick.
Bernhard Pörksen: Sicherlich kann man Kommunikationspsychologie auch für das internationale Gespräch zwischen Staatenlenkern nutzen, aber eher im Verborgenen über diplomatische Kanäle als im öffentlichen Raum, in dem jetzt die Ächtung das Gebot der Stunde ist. In der öffentlichen Kommunikation hat sich jedoch der Hollywoodschauspieler und republikanische Politiker Arnold Schwarzenegger als außerordentlich gut informierter Kommunikationspsychologe erwiesen. Er hat am 17. März dieses Jahres ein Video online gestellt mit dem Ziel, das Weltbild der Russinnen und Russen zu erschüttern, Propagandamauern durchlässiger zu machen und Menschen zum Protest gegen Putin aufzurufen. Er geht hier so vor, als habe er Band 1 bis 3 von Friedemann Schulz von Thuns Standardwerk inhaliert: maximale Wertschätzung gegenüber dem russischen Volk, eine einfache Sprache, Konzentration auf wenige Beispiele und eine offensive Erwähnung der Einwände sowie das Bekennen eigener Fehler. Hier sprach nicht der Superstar, sondern der besorgte Freund.
Wissen Sie, ob dieses Video die Russinnen und Russen auch tatsächlich in dem von Schwarzenegger erhofften Sinne erreicht hat?
Bernhard Pörksen: Arnold Schwarzenegger ist in Russland seit Jahrzehnten ein Superstar. Selbst Wladimir Putin folgt ihm auf Twitter. Das Video ist sofort viral gegangen, es gab Millionen Aufrufe und wurde auch im russischen Fernsehen diskutiert. Man konnte es nicht mehr ignorieren.
Wie bewerten Sie den Umgang der Bundesregierung mit dem Dilemma, dass sie sich einerseits zu ungeteilter Solidarität mit der Ukraine verpflichtet fühlt und andererseits die gesamte geopolitische Lage und weitere Bedrohungsszenarien im Blick behalten muss?
Friedemann Schulz von Thun:
„Es gibt in Deutschland eine Tendenz zur Polarisierung in der Frage des Umgangs mit dem Dilemma.“
Auf der einen Seite stehen diejenigen, die mehr fürchten, dass ein Weltenbrand entstehen könnte, und auf der anderen diejenigen, die mehr fürchten, dass wir in unterlassener Hilfeleistung die Ukraine einem Teufel preisgeben, der noch viel mehr vorhat. Die Größe der Angst ist ungleich verteilt, aber diese Polarisierung halte ich erst einmal nicht für toxisch, sondern für in der Natur der Sache liegend. Unsere Regierung hat das Dilemma aus meiner Sicht absolut erkannt.
Bernhard Pörksen: Ich glaube, dass Kanzler Olaf Scholz auch deshalb so scharf kritisiert wird, weil er im Gegensatz zu Angela Merkel in ihrer Amtszeit nun mit Annalena Baerbock und Robert Habeck mächtige Konkurrenten in puncto Kommunikation hat. Bundeswirtschaftsminister Habeck lebt – um die Terminologie von Friedemann Schulz von Thun zu verwenden – vor Publikum eine dilemmabewusste Offenheit. Man hat das Gefühl, ihm beim Denken zuzusehen. Er lässt Zweifel offenbar werden, sein eigenes Grausen davor durchscheinen, dass er nach Katar reisen musste, um Gasvorräte bei halbseidenen Autokraten zu organisieren. Dieses Denken vor Publikum hat etwas sehr Nahbares, Kreatürliches, Sympathisches …
Friedemann Schulz von Thun: … und dadurch auch etwas Überzeugendes.
Bernhard Pörksen: Ja. Und Außenministerin Annalena Baerbock besticht durch die Entschiedenheit ihrer Sprache.
Friedemann Schulz von Thun: Habeck ist ein Meister der dilemmabewussten Kommunikation, und diese öffentliche Nachdenklichkeit lässt das Dilemma wirklich bewusst werden. Zur dilemmabewussten Kommunikation gehören zwei schmerzliche Dinge. Erstens, dass man anerkennt, dass in der Position des Meinungsgegners eine Moral und eine Wahrheit stecken, die man nicht einfach übergehen kann. Und zweitens, dass in der eigenen Position Nachteile enthalten sind, die zuzugeben sind. Beides erlebe ich bei Robert Habeck in einer gewissen Virtuosität.
Ist ein solcher Umgang mit Entscheidungsdilemmata geeignet, Bürgerinnen und Bürgern verlorenes Vertrauen in die politischen Institutionen zurückgeben?
Bernhard Pörksen: Grundsätzlich ja, weil dadurch der politische Kommunikator als nahbar, mitmenschlich, erreichbar erscheint. In der dilemmabewussten Offenheit spiegelt sich ein nicht-hierarchisches Kommunikationsmodell wider, das Vertrauen stiften kann. Allerdings ist es auch eine Frage der Dosis, in der die Offenbarung von Selbstzweifeln verabreicht wird. Wir möchten den Wirtschaftsminister nicht morgens mit Tränen in den Augen sehen.
Friedemann Schulz von Thun: Absolut. Wir wollen keine ratlosen Nervenbündel in der Regierung haben, sondern Leute, die glaubhaft den Eindruck erwecken, dass sie nachts noch gut schlafen, dass sie die Dinge im Griff behalten und dass sie uns ein Minimum an Sicherheit garantieren, das sich der Einzelne nicht selbst verschaffen kann. Wo die Nachdenklichkeit in Ratlosigkeit übergeht, darf ich das nicht ausstrahlen, denn dann hätte ich meine Rolle verfehlt. In der Tat wieder ein Dilemma. Politiker zu sein birgt große Herausforderungen.
Sollte eine solche dilemmabewusste Kommunikation auch mehr in die Breite der Gesellschaft getragen werden?
Friedemann Schulz von Thun: Unbedingt. Das Leben ist kein Minenfeld, aber ein Dilemmafeld. Das gilt nicht nur für Politiker, sondern für Menschen in jedweder Rolle. Auch in der Rolle des Vaters und der Ehefrau oder zum Beispiel der Polizistin. Ich halte übrigens die Unterscheidung zwischen Problem und Dilemma in der öffentlichen Bewusstseinsbildung für ganz, ganz wichtig. Ein Problem lässt sich manchmal lösen, manchmal auch nicht, dann muss man damit umgehen. Wenn die Polizei in eine Wohnung will, weil sich dort ein verdächtiger Mensch aufhält, die Wohnungstür aber verschlossen ist, dann ist das ein lösbares Problem. Man kann den Hausmeister holen oder die Tür eintreten. Wenn die Polizei es aber mit Demonstranten zu tun hat, die ihre Maskenpflicht verweigern, steht sie vor einem Dilemma: Einerseits soll sie das Recht durchsetzen, andererseits soll sie deeskalieren und den Zusammenstoß von Demonstranten und Polizei nicht befördern. Sie soll nicht militant daherkommen und draufhauen, aber auch nicht zu zaghaft sein und zusehen, wie das Recht gebrochen wird. Das ist ein Dilemma. Diesen Zusammenhang in die Köpfe zu bekommen, betrachte ich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe – nicht nur für Politiker, nicht nur für die Polizei, sondern für jede Frau und jeden Mann.
Der Versuch zu verstehen, wie schwierig es in diesen Positionen ist, Entscheidungen zu treffen, könnte also auch zu mehr Vertrauen beitragen?
Friedemann Schulz von Thun: Empathie mit Politikerinnen und Politikern zu zeigen scheint mir das Gebot der Stunde zu sein – zu achten, was sie leisten und womit sie sich abquälen. Dass sie zunehmend angefeindet oder gar bedroht werden, empfinde ich als einen der größten Skandale hierzulande.
Herr Pörksen, Sie plädieren seit langer Zeit dafür, dass die Kompetenzen in der Kommunikation und in der Mediennutzung in die Breite getragen werden. Wo muss angesetzt werden?
Bernhard Pörksen: Weniges ist so nötig wie eine werteorientierte Medienbildung. Und seit vielen Jahren werbe ich weitgehend erfolglos für ein entsprechendes Schulfach. Im Hinblick auf die laufende Medienrevolution, die Bedrohung von Demokratien und den Aufstieg von Populisten reagiert die hiesige Bildungspolitik technikfasziniert, geldgetrieben und deutlich zu mutlos. Dies ließ sich am Beispiel des Digitalpaktes beobachten – hier ging es um etliche Milliarden für die Schulen, aber ohne klare konzeptionelle Linien.
Friedemann Schulz von Thun: Das sehe ich auch so: Miteinander-Reden müsste zum Schulfach werden. Kommunikation ist doch das A und O des Miteinanders.
Bernhard Pörksen: Mit der Idee der redaktionellen Gesellschaft habe ich versucht eine konkrete Utopie der Medienbildung zu entwickeln, also journalistische Kernsätze und Kernkompetenzen zum Bestandteil der Allgemeinbildung zu machen. Etwa den Grundsatz, dass Quellen geprüft werden, bevor man etwas veröffentlicht, und die Fähigkeit, Nachrichten in ihrer Relevanz einzuordnen. Journalistische Kernkompetenzen sind für die Allgemeinheit wichtig in einer Zeit, in der jeder zum Sender geworden ist. Worauf ich große Hoffnungen setze, sind Journalistinnen und Journalisten, die in sehr großer Zahl in diesem Land ehrenamtlich und in ihrer Freizeit in die Schulen gehen. Ein Verein wie „Journalismus macht Schule“ hat seit 2019 rund 10.000 Schulen besucht. Ein Verein wie „Kontext“ produziert eigene Onlineworkshops in großer Zahl. Redakteure der Süddeutschen Zeitung veranstalten Schüler-und-Lehrer-Medientage mit Tausenden von Teilnehmern. Das ist aus meiner Sicht eine Graswurzelrevolution der Medienbildung, der Beginn einer „Bürgerjournalistenschule“.
Können wir auch von anderen Ländern lernen?
Bernhard Pörksen: Aus meiner Sicht ist es ermutigend zu sehen, wie die finnische Gesellschaft in der Vergangenheit agiert hat. Finnland hat schon vor der Annexion der Krim das Problem der russischen Desinformation verstanden und mit einem „Critical Thinking Curriculum“ reagiert. Dieses wurde in landesweiten Anstrengungen umgesetzt, nicht nur für Schülerinnen und Schüler. Zielgruppen waren alle Generationen. Und es geht: In Finnland erhebt man heute die höchsten Medienkompetenzwerte im europäischen Vergleich.
Literatur
- Pörksen, Bernhard (2018): Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung.
- Schulz von Thun, Friedemann (1993): Miteinander reden 1 – Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation.
- Schulz von Thun, Friedemann (1992): Miteinander reden 2. – Stile Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differenzielle Psychologie der Kommunikation. Reinbek
- Schulz von Thun, Friedemann (1998): Miteinander reden 3 – Das „innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation.
- Schulz von Thun, Friedemann/Pörksen, Bernhard (2020): Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik.