Die eigene Rolle klären

Sich selbst als Teil der Situation begreifen

Datum: 12.12.2023

  • Kommunikationsstrategien
  • Haltung
  • Dialoggestaltung
  • Grundlagen

In Kürze: Wie reagiere ich auf Aussagen von politisch Andersdenkenden? Bei der Art, wie wir mit Meinungsverschiedenheiten umgehen, ist Selbstreflexion entscheidend. Zunächst kann es helfen, die Situation zu analysieren und sich an den W-Fragen zu orientieren. Dabei spielen Faktoren wie Anwesende, Ort, Beziehungen und die eigenen Ressourcen eine Rolle. Eine weitere Strategie ist den „inneren Eisberg“ zu betrachten, da oft unterbewusste Gefühle und Bedürfnisse die Empfindungen beeinflussen. Die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und Grenzen ermöglicht einen konstruktiven Dialog und fördert Verständnis in der Gesellschaft.

Sich selbst als Teil der Situation begreifen

Wie ich mit politisch Andersdenkenden umgehe, hat viel mit meiner eigenen Perspektive und Rolle zu tun. Betrachten wir folgende Ausgangssituation: In meiner Anwesenheit äußert jemand seine Meinung. Ich selbst stimme dieser Aussage nicht zu. Mehr noch, ich finde, dass diese Aussage andere Menschen abwertet und sie verletzen kann. Muss ich nun etwas erwidern und mich möglicherweise in eine Diskussion oder gar Streit verwickeln lassen? Oder kann ich mir meinen Teil denken, mich abwenden und meinen eigenen Belangen widmen?

Beide Reaktionen sind Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen. Beide Reaktionen haben ihre Berechtigung. Es kommt auf die Umstände an … Je nach Situation entscheiden wir uns mal so und mal so zu reagieren. Dabei ist es lohnenswert, diese Umstände genauer in den Blick zu nehmen und für sich selbst zu klären. Denn dies hilft einem schnell und zielführend zu reagieren und dauerhaft mit dieser Entscheidung zufrieden zu sein.

W-Fragen bieten Orientierung

Nicht immer sind wir in der Lage konstruktiv auf eine kritische Aussage zu reagieren und hier die richtigen Worte zu finden, ohne selbst abwertend der anderen Person gegenüber zu werden.

Dies kann emotionale Gründe haben, weil ich beispielsweise gerade sehr viel Stress habe und deshalb weniger belastbar bin. Es kann aber auch körperliche Gründe haben, zum Beispiel weil es spätabends ist und ich sehr müde bin. Auch gibt es Momente, in denen ein ernsthaftes Gespräch aufgrund der äußeren Umstände nicht möglich oder zielführend sind, etwa nachts auf der Straße oder wenn mein Gegenüber extrem aufgebracht oder gar aggressiv erscheint.

Die sogenannten W-Fragen helfen uns bei einer kurzen Analyse der Situation und der eigenen Verfasstheit. Durch sie kann ich die Situation reflektieren, um die für mich richtige Strategie zu finden. Sie lauten:

  1. Wer ist anwesend? Bin ich der Situation allein ausgesetzt oder Teil einer Gruppe?
  2. Wie gut kenne ich die Personen? Sind sie mir ganz fremd, flüchtig bekannt oder aus dem festen Freundes- und Familienkreis?
  3. Wo befinde ich mich? Im privaten oder öffentlichen Raum? In der U-Bahn, im Büro oder bei einer Familienfeier?
  4. Welche Rolle habe ich inne? Bin ich eine unbeteiligte 3. Person, werde ich direkt angesprochen oder bin ich von der abwertenden Äußerung betroffen?
  5. Wie viele Ressourcen habe ich? Bin ich müde, gestresst oder ausgeglichen, entspannt, energiegeladen genug, um mich der Situation zu stellen? Wie viel Zeit steht mir zur Verfügung? Gibt es vielleicht die Möglichkeit auch zu einem späteren Zeitpunkt über die getroffene Aussage in das Gespräch zu gehen?
  6. Was ist mein Ziel und wer meine Zielgruppe? Möchte ich für meine Werte einstehen, mich oder andere schützen? Möchte ich das Gesagte nicht unwidersprochen stehen lassen, eine Grenze setzen oder zum Nachdenken anregen? Habe ich das Gefühl, ich kann bei meinem Gegenüber etwas bewirken? Oder geht es mir darum, für die Betroffenen oder „unbeteiligten Dritten“ Haltung zu zeigen?
  7. Was macht die Aussage mit mir? Welche Gefühle werden durch das Gesagte bei mir ausgelöst?
  8. Was ist mir wichtig? Welche meiner Werte und Bedürfnisse wurden durch die Aussage verletzt?
  9. Wo liegen meine Grenzen? Möchte ich, dass alle Menschen ihre Meinungen und Gedanken frei äußern können? Gibt es für mich Grenzen dessen, was gesagt werden darf? Wenn ja, wo liegen diese konkret?

Die Fragen 1-7 beziehen direkt auf die jeweilige Situation, weshalb ich diese spontan klären muss. Die Fragen 8 und 9 sind allgemeiner Natur.

Um in der konkreten Situation diese beiden Fragen schnell für sich beantworten zu können und dies dann auch konstruktiv artikulieren zu können, lohnt es sich, sich vorher in einer ruhigen Minute generell damit auseinanderzusetzen und diese Fragen bewusst für sich zu klären.

Was ist mir wichtig?

Die Grundlage für das, was einem wichtig im Zusammenleben mit anderen ist, wird hauptsächlich von den eigenen Werten gebildet. Das persönliche Werteverständnis liegt unseren Handlungen, Reaktionen und Äußerungen zugrunde, sind Triebfedern dafür. Aber wir nehmen uns meist wenig Zeit, sie aktiv zu reflektieren. Doch in der Reflexion unserer Überzeugungen und Glaubenssätze können wir eine Landkarte unserer eigenen Werte entwerfen, die uns hilft, durch das Miteinander einer vielfältigen und widersprüchlichen Gesellschaft zu navigieren.

Wo liegen meine Grenzen?

Ob ich mit einer Äußerung einverstanden bin oder sie als etwas Verletzendes empfinde, ist abhängig von meiner „eigenen Grenze“. Ist diese nicht überschritten, dann nehme ich die Aussage auch nicht als problematisch wahr und habe auch nicht unbedingt den Impuls aktiv zu werden. Daher: Wo liegen denn die eigenen Grenzen? Abhängig von den eigenen Erfahrungen, zwischenmenschlichen Beziehungen sowie Wissen um bestimmte Themen und Begriffe können diese Grenzen ganz unterschiedlich festgelegt werden. Zu beachten ist hierbei folgendes:

  • Meine Grenze ist nicht deine Grenze: Eine Aussage, die für mich problematisch ist, wird von Anderen nicht automatisch genauso bewertet. Eine aktive Ansprache und Erläuterungen können Anderen helfen, die Problematik hinter der Aussage wahrzunehmen.
  • Intention und Wirkung: Manchmal äußern Menschen Dinge, die abwertend sind – ohne dass dies wirklich ihre Intention war. Dann ist es wichtig, deutlich zu machen, welche Wirkung ihre Aussage haben kann. Dabei sollte man vermeiden, die Person an den Pranger zu stellen sowie zu versuchen, die Person von der Aussage zu trennen („Deine Aussage war problematisch. Du bist aber kein schlechter Mensch.“). Viele Menschen sind, wenn ihre Aussagen konstruktiv kritisiert werden, zu einem Perspektivwechsel bereit.

Der innere Eisberg

Empören wir uns über eine abwertende Aussage, verbleiben wir in der Reflexion dessen, was uns stört, oft auf der sogenannten Sachebene. Bildlich gesprochen ist diese Sachebene der bewusste, also hier der hörbare Teil einer Aussage. Stellt man sich dies als Teil eines Eisberges vor, dann ist es der Teil, der über der Wasseroberfläche liegt und damit für alle sichtbar ist. Auf dieser Ebene empören wir uns über die falsche Wortwahl, die falsch verstandene Statistik oder die (für uns falsche) politische Meinung.

Unter der Wasseroberfläche jedoch liegt der größere, nicht sichtbare und somit unbewusste Teil unserer Wahrnehmung einer Situation und Aussage: die persönliche Ebene. Hier finden sich unsere eigenen Gefühle, Bedürfnisse, Werte und Wünsche. Auf dieser Ebene ist nicht die Frage „Was höre ich?“ relevant, sondern vielmehr die Frage „Was löst das Gehörte in mir aus?“. Wenn mit einer Aussage meine Werte und Bedürfnisse (etwa nach Respekt, Wertschätzung oder Gleichbehandlung) verletzt werden, ärgere ich mich viel mehr über diese Aussage, als wenn nur ein Sachverhalt falsch dargestellt wird. Die Offenlegung meiner Gefühle, Bedürfnisse, Werte und Wünsche kann eine Gesprächsgrundlage bilden. Ich kann meinem Gegenüber dadurch vermitteln, warum mich die Aussage stört, ohne die Person abzuwerten. So kann es mir gelingen, eine Ebene zu schaffen, auf der es möglich ist, miteinander zu sprechen, ohne dass die Kommunikation abbricht.

Die eigene Rolle

Wichtig ist hierbei zu bedenken, dass man nicht nur selbst „seinen eigenen Eisberg“ hat, sondern dass auch unser Gegenüber unter der Wasseroberfläche Werte, Bedürfnisse und Wünsche hat, die ihn leiten und die für uns nicht sichtbar sind. Mein innerer Eisberg trägt dazu bei, wie ich reagiere.

Auch ich selbst bin nicht frei von vorgefertigten Meinungen oder stereotypen Bildern. Dies kann mich dabei hemmen, mich auf den Menschen hinter der Aussage einzulassen, ihm eine Chance zu geben, sich zu erklären. Dieses Einlassen ist aber nötig, um einen konstruktiven Dialog zu schaffen

Wenn ich meinem Gegenüber konstruktiv gegenübertrete, erhöht das die Wahrscheinlichkeit enorm, dass auch er oder sie mir zuhört. Dies gibt mir die Möglichkeit, meiner:m Gesprächspartner:in meine Perspektive und Position aufzuzeigen. Für welche Reaktion auch immer ich mich entscheide, es ist wichtig und hilfreich zu verstehen, dass ich ebenfalls Teil der Situation bin und meinen eigenen inneren Eisberg mitbringe. Mache ich mir dies bewusst, habe ich einerseits kommunikative Hilfestellungen an der Hand, ein empathisches Verständnis mit mir selbst und die Wahl auf die eine oder andere Weise zu reagieren.