Ambiguitätstoleranz  

Datum: 14.12.2023

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Illustration von zwei Menschen im Dialog

Eine wesentliche Grundlage für einen konstruktiven Austausch ist andere Meinungen zu akzeptieren sowie Widersprüche auszuhalten. Diese Fähigkeit wird auch als Ambiguitätstoleranz bezeichnet und bezieht sich darauf, wie gut eine Person mit Unsicherheiten und widersprüchlichen Informationen umgehen kann. In der politischen Bildung spielt die Förderung von Ambiguitätstoleranz eine zentrale Rolle, da sie zu einem offenen und respektvollen demokratischen Diskurs beiträgt. 

Bei vielen aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen wünschen sich die Menschen häufig klare Orientierungspunkte. Welche Position ist die richtige? Gerade in unserer leistungsorientierten Gesellschaft ist in Erziehung, Schule, Ausbildung und Arbeitsleben der Rahmen, in dem etwas als ‚richtig oder falsch‘ bewertet wird, meist klar gesteckt. Dieser Rahmen bildet eine Sozialisationsgrundlage. Doch nicht immer gibt es diese eindeutigen Antworten. 

Es gibt nicht immer die richtige Antwort 

Konflikte und Diskurse sind jedoch häufiger viel komplexer als sie vielleicht auf den ersten Blick scheinen. Im Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft treffen viele verschiedene Perspektiven und Positionen aufeinander, die nicht in richtig vs. falsch einteilbar sind oder eingeteilt werden sollten. Im Gegenteil ist es gerade diese Koexistenz, die einen wichtigen Bestandteil im demokratischen Miteinander bildet.  

Die Erwartungshaltung nach einer einfachen Antwort steht somit im Widerspruch dazu, dass es Sachverhalte gibt, die eine einfache Antwort nicht zulassen. So können bei der Bewertung einer Aussage das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit gegenüberstehen. Es gibt in so einem Fall nicht DIE Eindeutigkeit. Durch die pluralen Perspektiven in unserer Gesellschaft wird es fortwährend verschiedene Wahrheiten geben.  

Die Fähigkeit, andere Meinungen und Sichtweisen zu akzeptieren und entsprechende Widersprüche in Situationen und Handlungsweisen auszuhalten, nennt man Ambiguitätstoleranz.

Sie bildet eine wesentliche Grundlage, um konstruktive Kommunikation in der Demokratie zu ermöglichen.

Das Modell der Ambiguitätstoleranz

Nach der Psychologin Else Frenkel-Brunswik (1949) existieren grundsätzlich zwei Wege, um auf Widersprüchlichkeit (zum Beispiel in Handlungsweisen oder Situationen) zu reagieren: entweder mit Ambiguitätsintoleranz oder mit Ambiguitätstoleranz. Ambiguitätstoleranz beschreibt die messbare Fähigkeit eines Individuums, die Koexistenz von positiven und negativen Eigenschaften in ein und demselben Objekt erkennen zu können. Ambiguitätsintoleranz hingegen ist die Persönlichkeitseigenschaft, die dazu führt, widersprüchliche Gefühle gegenüber einer Person oder einem Objekt abzuwehren.

Für viele Menschen ist Ambiguität – also Widersprüchlichkeit – schwer mit den eigenen Bedürfnissen nach Sicherheit, Ordnung und Klarheit zu vereinbaren. Zudem wirkt eine Eindeutigkeit für viele Menschen psychisch sehr entlastend und dient somit auch als Schutzmechanismus um sich selbst nicht zu überfordern.

Auswirkung von Ambiguitätsintoleranz

Dementsprechend produziert Ambiguitätsintoleranz häufig einfache Zuschreibungen, meist in klassischen Gut-Böse-Schemata. Dies geht einher mit dem Bedürfnis nach Kategorisierung und eindeutigen Zuordnungen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Ungewissheit und Mehrdeutigkeit in erster Linie als Verunsicherung oder häufig auch als Bedrohung empfunden werden und sich in Furcht, Verneinung oder gar Aggressivität ausdrücken. Eine ambiguitätsintolerante Haltung macht es schwierig, sich in einer pluralistischen Gesellschaft zurechtzufinden (Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus 2013).

Setzt man sich mit Diskriminierungs- und Vorurteilsmechanismen auseinander, wird zudem deutlich, dass die Ambiguitätsintoleranz dazu beiträgt, diese Mechanismen aufrechtzuerhalten. Wenn man nicht ertragen kann, dass Mitmenschen anders sind, so liegt das auch an einer fehlenden Ambiguitätstoleranz. Je schwerer man mit dieser Ambiguität umgehen kann, desto wahrscheinlicher und stärker wird man menschenfeindliche Einstellungen vertreten (Sidanius 1978).

Ambiguitätsverweigerung und Populismus

Populismus in all seinen Facetten ist eine „geniale Strategie“ (Baethge 2019), um sich nicht mit Mehrdeutigkeit auseinanderzusetzen. Dementsprechend fallen populistische Einstellungen und Ideologien auf fruchtbaren Boden bei ambiguitätsintoleranten Menschen. Der Auseinandersetzung von widersprüchlichen Sachverhalten aus dem Weg zu gehen, nennt man auch Ambiguitätsverweigerung. Dies ist nicht immer eine bewusste Entscheidung, sondern hängt mit dem Wunsch nach Entlastung und Selbstschutz zusammen.

Nach Thomas Bauer (2019) gibt es zwei Kategorien der Ambiguitätsverweigerung. Diese beiden Kategorien werden auch als Pole bezeichnet. Dem Ich-bezogenen und autoritären Pol der Eindeutigkeit steht der Pol der Bedeutungslosigkeit gegenüber. Der Pol der Eindeutigkeit wird in der Theorie häufig in Kombination mit einer allumfassenden Welterklärung verknüpft. Allerdings bedarf es, um der Ambiguität zu entgehen, nicht unbedingt der Loyalität zu einer erklärungsstiftenden ‚Führerfigur‘ – also jemanden, die oder der das Denken für einen übernimmt und einem vorgibt, was richtig und falsch ist. Eine mögliche Strategie ist auch, einfach niemandem mehr Vertrauen zu schenken und generell Autoritäten abzulehnen. Für jene Menschen gilt nur die eigene Wahrheit, was sich im schlechtesten Fall bis zum Wahrheitswahn steigern kann.

Auch dort, wo Menschen besonders empfänglich sind für verschwörungsideologische Welterklärungen werden Korrelationen beobachtet. So stellt der Amerikanist Michael Butter (2020), Leiter eines EU-Forschungsprojekts zur Analyse von Verschwörungstheorien, fest:

„Verschwörungstheorien sprechen insbesondere diejenigen Menschen an, die schlecht mit Unsicherheit und Ambivalenz umgehen können.“ 

Einflussfaktoren auf Ambiguitätstoleranz 

Weitere wichtige Einflussfaktoren auf die Ambiguitätstoleranz wurden durch Studien zum Lernverhalten von Studierenden beleuchtet (Lind 1987). Diese zeigen auf, dass die schulische Leistung an sich keinen Einfluss auf den Umgang mit Ambiguität hat, da sich kein Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Abiturnote und der messbaren Toleranz offenbart. Deutlich wird jedoch, dass eine Verbindung zwischen chronischen Überforderungen (beispielsweise durch Krankheit, Langzeitarbeitslosigkeit oder prekäre Arbeitsverhältnisse) und einer erhöhten Ambiguitätsintoleranz festzustellen ist. Somit ist Bildung – in Bezug auf messbare Leistungen – weniger einflussreich. Vielmehr sind es die Lebensumstände, die darüber bestimmen, wer besser mit Widersprüchlichkeiten umgehen kann. Lind zufolge ist es deshalb wichtig, die Sozialkompetenz zu fördern, das heißt insbesondere Kritikfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Kontaktfreudigkeit und Aufgeschlossenheit.  

Ambiguitätstoleranz und Demokratiekompetenz 

Nach Ansicht der Psychologin Oriel Feldmann-Hall (2019) sind Menschen, die eher bereit sind, Ambiguität zu tolerieren, im Umkehrschluss auch eher bereit, anderen ihr Vertrauen zu schenken und kooperativ zu sein. Sie können in schwierigen moralischen Situationen ihre Integrität und Identität bewahren und soziale oder auch politische Konflikte auf eine konstruktive und gewaltfreie Weise lösen. 

Ambiguitätstoleranz ist somit eine zentrale Fähigkeit im Bereich der Demokratiekompetenz und bildet eine wichtige Grundlage für einen auf demokratischen Werten basierenden Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt.  

Literatur

Expert:innen zum Thema

  • Dr. Claudia Lenz 
  • Seyfullah Köse