Von Werten und Milieus  

Datum: 01.02.2024

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In Kürze: Unter dem Wertemilieuansatz versteht man eine Analysemethode, die von der Bertelsmann-Stiftung entwickelt wurde und die Vielfalt der individuellen Werthaltung der deutschen Bevölkerung untersucht. Statt nur eine allgemeine Werthaltung anzunehmen, identifiziert der Ansatz sieben verschiedene Gruppen oder „Wertemilieus“ mit ähnlichen Überzeugungen. Zum Beispiel gibt es Menschen die gesellschaftlichen Wandel begrüßen oder einfordern während andere diesen eher kritisch sehen. Der Ansatz erklärt, warum es in Debatten zu Konflikten kommt und nicht alle die gleiche Meinung teilen. Allerdings sind Wertemilieus keine festen sozialen Gruppen, sondern Analysekategorien.

Der „Wertemilieuansatz“ 

Die von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebenen Studie Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl – Sieben Wertemilieus und ihre Sicht auf Corona (2021) stellt die Autorin Yasemin El-Menouar ein Analysemodell vor, in dem Individuen verschiedenen Wertemilieus zugeordnet werden, um entsprechende Schlüsse auf ihre politischen Positionen oder den jeweiligen Grad ihrer Akzeptanz staatlichen Handelns in Bezug auf die Corona-Maßnahmen zu ziehen.  

Die Grundlagen 

Das Modell wurde auf Grundlage einer quantitativen Online-Befragung entwickelt, an der im November 2020 1.012 Personen ab 18 Jahren teilnahmen. Dabei waren die Teilnehmenden in Bezug auf Alter, Geschlecht und Bundesland für die deutsche Bevölkerung repräsentativ, wobei Hochgebildete in der Stichprobe überrepräsentiert sind. Um Verzerrungen im Sample zu minimieren, wurde zudem auf unterschiedliche Rekrutierungsmethoden (online und telefonisch) zurückgegriffen. 

Das Ergebnis sind sieben Wertemilieus, die laut Studie „quer durch die Gesellschaft – in unterschiedlichen Alters-, Bildungs- sowie Einkommensgruppen – zu finden“ sind. Jedoch ergab der Abgleich mit Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Einkommen, Bildung, Beruf/ Berufstätigkeit, Familienstand, Religionszugehörigkeit, Religiosität, Ost-West-Herkunft sowie Parteipräferenz statistisch signifikante Häufungen im Vergleich zum Gesamtdurchschnitt, was für die nähere Charakterisierung der Wertemilieus gewinnbringend herangezogen werden konnte.

Es ergibt sich also folgendes Gesamtbild: 

Schon bei oberflächlicher Betrachtung fällt auf, dass keinem einzelnen Wertemilieu die Bevölkerungsmehrheit zugeordnet werden kann, was es erlauben würde, von der Werteorientierung oder gar den Werten der deutschen Bevölkerung zu sprechen.

Das Ergebnis der Studie zeigt eine große Diversität und sogar Potential für Konflikte aufgrund unterschiedlicher Wertorientierungen. Dies zeigt sich etwa in Bezug auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit gesellschaftlichem Wandel, welcher von unkonventionellen Selbstverwirklicher:innen und kreativen Idealist:innen begrüßt und eingefordert wird, während er beispielsweise von individualistischen Materialist:innen und leistungsorientierten Macher:innen eher kritisch gesehen oder sogar abgelehnt wird. Auch eine „Lagerbildung“ der Milieus ist nicht ohne weiteres möglich, da in vielen Fällen die Übereinstimmung einiger Werte der Unvereinbarkeit anderer gegenübersteht. So teilen beispielsweise kreative Idealist:innen und bescheidene Humanist:innen die Werte Gleichheit, Pluralität und Umweltschutz, doch schließen sich der Hedonismus der einen und die Bescheidenheit der anderen ebenso aus wie ihre Wertschätzung von Meinungsstärke bzw. Zurückhaltung.

Keine ausgeprägte Gruppenidentität

An dieser Stelle sei betont, dass es sich bei den sieben Wertemilieus explizit nicht um soziale Formationen mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Gruppenidentität bzw. –identifikation (wie etwa beim Bildungsbürgertum, mittelständischen Unternehmer:innen, den Bewohner:innen eines Viertels oder den Mitgliedern eines Sportvereins) handelt. Dies ist wichtig, da man sonst leicht der Versuchung erliegen könnte, sie als abgrenzbare Diskursräume oder gar als soziale bzw. politische Interessengruppen zu betrachten. 

Ein kritischer Blick auf den Wertemilieuansatz

Im Folgenden werden die potentiellen Problemquellen des Ansatzes aufgezeigt. In Bezug auf die Frage der Komplexitätsreduktion ist zunächst festzuhalten, dass diese ein Grundelement jeder wissenschaftlichen Theorie bzw. jedes Modells ist, mit dem versucht wird, die vermeintlich ungeordnete Realität untersuchbar und somit begreifbar zu machen. Darin liegt an sich noch kein Problem.  

„Jedoch stößt das Modell beispielsweise dann an seine Grenzen, wenn es darum geht, Menschen mit widersprüchlichen Werthaltungen zu verorten.“

Baudisch 2017: 231-233

Zudem muss kritisch angemerkt werden, dass das Modell der sieben Wertemilieus durch ein gewisses Maß an Willkür, bei der Setzung der Analysekategorien (also der erfragten Wertorientierungen) geprägt ist. So lässt sich in beiden Fällen kein wissenschaftlich überprüfbares Kriterium finden, aus dem sich die Zahl der abgefragten Grundwerte bzw. Milieus intersubjektiv ableiten ließe. In Bezug auf die Wertemilieus bedeutet dies, dass auch eine andere Einteilung möglich gewesen wäre (etwa eine Zusammenfassung von Milieus mit großen Schnittmengen oder eine weitere Ausdifferenzierung), woraus sich die Möglichkeit für alternative Schlussfolgerungen und Deutungen ergibt. 

Wie sinnvoll ist dann die Arbeit mit dem Ansatz? 

Trotz der vorangegangenen kritischen Betrachtungen und Anmerkungen bietet der Wertemilieuansatz Potentiale, um die politische Bildung langfristig zielgruppenorientierter, niedrigschwelliger und somit insgesamt zielführender zu gestalten.
Folgende Aspekte sind relevant: 

1. Analyse von Wertemilieus 

Eine zentrale Erkenntnis der intensiven Auseinandersetzung mit dem Wertemilieuansatz besteht darin, dass der Prozess der individuellen Werteorientierung und -entwicklung nicht willkürlich oder zufällig passiert. Vielmehr resultiert er aus dem Zusammenspiel von persönlichen Erfahrungen, äußeren Einflüssen und Umständen sowie bewussten Entscheidungen und Reflexionsprozessen. Dementsprechend lassen sich Wertorientierungen von Individuen nicht isoliert betrachten, sondern müssen im Zusammenhang mit der Biografie, dem sozialen Stand, den politischen Überzeugungen und religiös-weltanschaulichen Prägungen von Menschen verstanden werden.  

Denn nur so lassen sich Diskurse, Narrative und Hierarchien ausmachen, welche für die Angehörigen bestimmter Milieus prägend sind. Auch die diskursanalytische Auseinandersetzung mit milieuspezifischen Narrativen, also sinnstiftenden Erzählungen, die sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene Wirkung entfalten können, verspricht einen bedeutenden Erkenntnisgewinn. So kann untersucht werden, wie sich eine bestimmte Wertorientierung auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit marginalisierten Gruppen (z.B. Frauen, Homosexuelle, Transmenschen oder Geflüchtete) auswirkt, also ob diese eher als Bedrohung oder zu unterstützende Verbündeten im Kampf um mehr gesellschaftliche Teilhabe angesehen werden.  

Darüber hinaus ist eine historische Kontextualisierung dieser Narrative möglich, was wiederum Aufschluss darüber gibt, an welche Traditionslinien, Vorbilder und Diskurse die betreffende Person bzw. die betreffenden Personen argumentativ anknüpfen.

2. Selbstreflexion 

Der Wertemilieuansatzes bietet einzelnen politischen Bildner:innen ebenso wie Teams und Trägern politischer Bildung die Chance, sich über ihre eigene Haltung klar zu werden. Verbunden damit wäre das Ziel, die Illusion eigener Objektivität zu überwinden und – zumindest für sich selbst – zu klären, von welcher Wertegrundlage man ausgeht, wenn man spricht, Gesagtes einordnet und mit dem Gegenüber begegnet. Denn auch politische Bildung kann niemals wertneutral passieren. Daher sollten sich die Beteiligten darüber klar sein, dass das eigene Arbeiten auch immer auf einem Wertefundament basiert, welches nicht notwendigerweise in allen Wertemilieus geteilt wird.  

Die eigene Haltung für alle Teilnehmenden stillschweigend vorauszusetzen, kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass sich die Beteiligten nicht respektiert fühlen.  

3.  Zielgruppenerreichung 

Schließlich liegt ein Potential des Wertemilieuansatzes darin, Angebote der politischen Bildung auch schwieriger zu erreichenden Zielgruppen besser zugänglich zu machen. Dies bezieht sich gleichermaßen auf Veranstaltungsorte, -themen, -zeiten und -formate. So kann der Ansatz dabei helfen, Angebote möglichst genau an die zu erreichenden Personengruppen anzupassen und frühzeitig deren spezifische Bedürfnisse mitzudenken sowie in die Planung einzubeziehen. 

Dabei ermöglicht der Wertemilieuansatz eine Umorientierung von „harten“ Kategorien der Zielgruppenbestimmung (z.B. Geschlecht, Migrationskontext, Religionszugehörigkeit, Alter usw.) zum „weicheren“ Auswahlkriterium der handlungsmotivierenden Werteorientierung. Dies hat mindestens drei Vorteile:

  • Homogenisierung der Zielgruppe entgegenwirken, 
  • Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen auf Grundlage ihrer geteilten Werte Gemeinsamkeiten erkennen lassen und dadurch den Blick auf andere und deren Anspruch auf gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe verändern, 
  • Potentiell diskriminierende Annahmen und Zuschreibungen über bestimmte Personengruppen zu überwinden. 

Denn gesellschaftliche Kompetenzzuwächse in den Themenkomplexen Demokratiestärkung sowie Extremismusprävention können nur entstehen, wenn Anknüpfungspunkte zu den jeweiligen Wertemilieus gefunden werden.

Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung der Publikation: Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. (2022): Der Wertemilieuansatz in der politischen Bildung – Hintergründe, Potentiale und Handlungsempfehlungen, Berlin.

Literatur

Expert:innen zum Thema

  • Ramzi Ghandour 
  •  Dr. Yasemin El-Menouar