Zusammenhalt bedeutet auch Konfliktfähigkeit

Ein Interview

Datum: 19.12.2023

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In Kürze: Mit dem Titel „die andere deutsche Teilung“ analysiert die Studie von More Common gesellschaftliche Dynamiken nicht anhand der traditionellen Trennlinie von Ost und West. Stattdessen teilt die Studie die Bevölkerung in eine „Dreiteilung“ basierend auf sozialer Einbindung und Perspektive. Das „unsichtbare Drittel“ fühlt sich einsam, wenig eingebunden in die Gesellschaft und politisch passiv. Neben Nichtwähler:innen gehören auch Menschen mit Migrationsgeschichte zu der Gruppe. Für ein gesundes Gemeinwesen ist es jedoch wichtig, dass alle Gruppen gehört und repräsentiert sind. Die Fähigkeit über Unterschiede zu streiten ist eine Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Im Interview berichtet Laura-Kristine Krause von More in Common über die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Studie Die andere deutsche Teilung: Zustand und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft (2019).

Frau Krause, was wollten Sie mit der Studie „Die andere deutsche Teilung“ herausfinden?

Mit unserer Studie wollten wir herausfinden, wie es um die gesellschaftliche Dynamik in Deutschland bestellt ist. Was verbindet uns, was trennt uns, wo genau laufen eigentlich die Konfliktlinien? Diese Fragen stellen sich aus gutem Grund, weil sich das gesellschaftliche Klima in Deutschland seit einigen Jahren merklich verschlechtert. Mit dem innovativen Forschungsansatz der Studie haben wir untersucht, wie es diesbezüglich in Deutschland aussieht. Bei More in Common sind wir fest davon überzeugt, dass man das Problem bestmöglich verstehen muss, um auch mit zivilgesellschaftlichen Ansätzen wirkungsvoll etwas entgegensetzen zu können.

Gab es Ergebnisse, von denen Sie überrascht waren? 

Es gab mehrere Ergebnisse, mit denen ich nicht gerechnet habe. Mit unserem methodischen Ansatz, der Instrumente der Politikwissenschaft mit Ansätzen der Sozialpsychologie zusammenführt, konnten wir manche der vermeintlichen Trennlinien, die die öffentliche Debatte häufig prägen, nicht bestätigen. Zum Beispiel ist die Frage von Ost und West nicht so wirkmächtig für die Frage gesellschaftlicher Spaltung in Deutschland, wie man angesichts der öffentlichen Debatte oft denkt. Stattdessen haben wir eine „Dreiteilung“ der deutschen Bevölkerung vorgefunden – je nachdem, wie gut eingebunden die Menschen in die Gesellschaft sind und mit welcher Perspektive sie auf sich und ihr direktes persönliches Umfeld blicken. 

Ich fand außerdem überraschend, dass viele Menschen über sehr ähnliche Dinge nachdenken, auch wenn sie dafür unterschiedliche Worte verwenden.

„Vor allem erleben viele in ihrem Alltag ein kaltes und raues gesellschaftliches Klima, das ihnen Sorgen bereitet.“

Zur gleichen Zeit wünschen sich viele im Land einen Aufbruch und eine aktive Gestaltung der Zukunft. In ihren Augen tut Deutschland zu wenig, um den bestehenden Wohlstand auch für die nächsten Jahrzehnte zu sichern. 

Sie haben in Ihren Befragungen zwei Gruppen ausgemacht, die Pragmatischen und die Enttäuschten, die Sie als „unsichtbares Drittel“ beschreiben. Warum sind diese unsichtbar? 

Das Schaubild der Organisation More in Common verortet sechs gesellschaftliche Gruppen in einem Diagramm. Die X-Achse „Umgang mit gesellschaftlichem Wandel“ zeigt auf die beiden Pole „affin“ und „avers“. Die Y-Achse „Orientierung im Gemeinwesen“ reicht von „gering“ bis mittel. Es werden sechs gesellschaftliche Gruppen identifiziert. Je zwei davon werden anhand ihrer gleichen Lage auf der Y-Achse nochmals zu Paaren zusammengefasst. Eine große Orientierung im Gemeinwesen weißen die beiden sogenannten „gesellschaftlichen Stabilisatoren“ auf. Diese sind zum einen die Gruppe der Involvierten, welche dem Umgang mit gesellschaftlichem Wandel eher affin gegenübersteht, sowie die Gruppe der Etablierten, welche gesellschaftlichem Wandel eher avers gegenübersteht. Die sogenannten gesellschaftlichen Pole, nämlich die Offenen und die Wütenden, weisen eine mittlere Orientierung im Gemeinwesen auf. Die Offenen sind dabei sehr wandelaffin, während die wütenden sehr wandel-avers sind. Das dritte Paar, das sogenannte unsichtbare Drittel, hat eine geringe Orientierung mit dem Gemeinwesen. Die Pragmatischen liegen dabei genau in der Mitte der Skala zum Umgang mit gesellschaftlichem Wandel. Die Enttäuschten sind hingegen eher wandel-avers.
Die Organisation More in Common kann in ihrer Studie zeigen, dass es nicht zwei große, sich gegenüberstehende gesellschaftliche Gruppen gibt, sondern sechs Gruppen, die alle in etwas gleich groß sind. Quelle: More in Common 2019: 13

Das unsichtbare Drittel fühlt sich im Vergleich zum Rest der Gesellschaft häufiger einsam, es fehlt an persönlicher Einbindung und an dem wichtigen Gefühl, Einfluss auf das eigene Leben und die Gesellschaft nehmen zu können. Auch in politisch-gesellschaftlichen Fragen sind diese Menschen weniger als andere involviert, bleiben oft passiv und finden nicht, dass der politische Raum ihnen eine gute Orientierung liefert. Ein Drittel der Bevölkerung fühlt sich demnach im wahrsten Sinne des Wortes als unsichtbar.

Damit unterscheiden sie sich zum Beispiel ganz deutlich von den gesellschaftlichen Polen der Offenen und der Wütenden. Als Treiber der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sind die nämlich sehr präsent im öffentlichen Diskurs und – im Fall der Wütenden – zugleich auch diejenigen, die am wenigsten kompromissbereit sind. Es besteht also die Gefahr, dass den einen viel öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwird, während das unsichtbare Drittel übersehen wird.

Wieso sollte man diesem Drittel mehr Aufmerksamkeit widmen?

Für ein gesundes Gemeinwesen ist es von Bedeutung, dass alle gesellschaftlichen Gruppen erreicht und gehört werden. Ein Gemeinwesen, das nur einen begrenzten Anteil der Gesellschaft einbindet, kann für sich nicht in Anspruch nehmen, alle Menschen angemessen zu repräsentieren. Deswegen ist es uns wichtig, auf das unsichtbare Drittel hinzuweisen, gerade weil dies eben oft Menschen sind, die aktuell von politischen Entscheidungsträgern und der Zivilgesellschaft weniger gut erreicht werden. Für die Politik gibt es auch wichtige Argumente und Anreize, sich stärker mit den Unsichtbaren zu beschäftigen. Das unsichtbare Drittel ist nämlich oftmals sehr jung und zählt viele Nichtwählerinnen und -wähler in seinen Reihen.

Unterscheidet sich die gesellschaftliche Konstellation, die Sie für Deutschland beschrieben haben, von der anderer westlicher Staaten? 

Ich sage immer gerne: Die „Zutaten“ der gesellschaftlichen Spaltung, die wir etwa in den USA sehen, gibt es auch bei uns in Deutschland, aber sie sind bei uns noch nicht zu dem toxischen Gemisch „zusammengerührt“, dass wir dort sehen. Auch hier ist die Debatte über gesellschaftliche Trennlinien hinweg schwierig, gemeinsame Informationsräume schwinden, die Presse gerät unter Druck und vor allem haben wir in unserer Studie eine „doppelte Vertrauenskrise“ identifiziert: einerseits zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Politik, anderseits auch zwischen den Menschen selbst. Das heißt, die gesellschaftliche Substanz ist bereits angegriffen.  

„Wir sollten nicht den Fehler machen zu glauben, dass wir in Deutschland aufgrund unserer Vergangenheit davor gefeit sind, tiefer in diese gesellschaftlichen Konfliktdynamiken hineinzugeraten. “

Gleichzeitig sehe ich aber bei uns auch viele Vorteile, mit denen wir einer weiteren Spaltung entgegenwirken könnten: Wir haben eine hochaktive Zivilgesellschaft, viele Stifterinnen und Stifter, ein politisches System, das keine 50:50-Polarisierung herbeiführt, und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.  

More in Common erhebt nicht nur Daten, sondern trägt diese auch in die Praxis. Mit welchen Einrichtungen hatten Sie im Nachgang der Studie bereits zu tun? 

Eine Kernerkenntnis unserer Studie ist es, dass es für eine gesellschaftliche Mehrheit immer Menschen braucht, die anders ticken als man selbst, und dass es für den Zusammenhalt besonders wichtig ist, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die anders sind als man selbst. Wir motivieren also Einzelpersonen kontinuierlich zum Perspektivenwechsel und alle zivilgesellschaftlichen und politischen Akteure (also NGOs, Gewerkschaften, Glaubensgemeinschaften, Parteien, aber auch die Wirtschaft), ihre Rollen für den Zusammenhalt und das gesellschaftliche Klima zu reflektieren.  

Vor allem die Frage, wer erreicht und wer nicht erreicht wird, ist dabei wichtig. In Hinblick auf das unsichtbare Drittel braucht es wahrscheinlich auch Akteure, die sich selbst nicht unbedingt als gesellschaftlich relevant empfinden, etwa Betreiber ganz normaler Alltagsorte.  

Ist die Diskussion um voneinander abgeschottete Milieu-„Blasen“, zwischen denen mindestens Sprachlosigkeit, manchmal aber sogar Hass herrscht, übertrieben? 

Wir sehen zum einen, dass sich die gesellschaftlichen Prioritäten und Wertvorstellungen der Menschen maßgeblich unterscheiden – womöglich in größerem Maße, als das jede und jeder Einzelne in seinem persönlichen Umfeld mitbekommt. Zum anderen berichten die Menschen in unserer Forschung von einem Gefühl der wachsenden „Sprachlosigkeit“: Es werde immer schwerer, über Trennlinien hinweg mit anderen zu diskutieren und im Zweifelsfall auch zu streiten. Man scheut zunehmend davor zurück, weil die Stimmung als zu riskant wahrgenommen wird. 

Deshalb steht zu befürchten, dass die gegenwärtige Streitfähigkeit nicht ausreicht, um die großen Herausforderungen unserer Zeit produktiv zu bearbeiten. Und davon gibt es genug. Von der Klimapolitik über die Migration bis zu fundamentalen Gerechtigkeitsfragen gibt es viele wichtige Themen, die unsere Zukunft entscheidend prägen werden. In unseren Augen bedeutet Zusammenhalt auch Konfliktfähigkeit. Letztere muss alleine deswegen besser werden. 

Wir haben erlebt, dass es bei vielen sozialen Trägern Vorbehalte gibt, sich auf Zielgruppen einzulassen, die der Migrationsgesellschaft skeptisch gegenüberstehen. Müssen denn alle mit allen reden? 

Ich verstehe diese Skepsis, denn auch unsere Daten zeigen, wie weitverbreitet schwerwiegende Ressentiments gegenüber kulturellen Minderheiten sind. Es ist also beileibe nicht immer einfach, die nötige Kraft für einen eher schwierigen Austausch aufzubringen. Aber vermutlich wird zivilgesellschaftliche Arbeit langfristig nicht weiterkommen, wenn nur Zielgruppen erreicht werden, die bereits jetzt dem Thema Migration gegenüber vollumfänglich aufgeschlossen sind. Es sollte nicht so sein, dass diejenigen, die ambivalent sind, ein Stück weit sich selbst überlassen und dann im schlimmsten Fall nur von Migrationsgegnern adressiert werden.

Dabei geht es ausdrücklich nicht um das „Zugehen“ auf radikale Einwanderungsgegner, sondern um den Austausch mit Menschen, die bestimmte Fragen zu Migration haben. Die Gesellschaft in Deutschland ist ja nicht nur in bedingungslose Befürworter der Einwanderung und Extremisten gespalten, die jegliche Zuwanderung ablehnen, wie das seit 2015 oft suggeriert wurde.  

„Auch unabhängig vom Thema Migration muss man sich immer wieder vor Augen führen, dass die meisten Menschen tief in sich mit unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen Gefühlen und Perspektiven ringen, wenn es um derlei Themen geht, und keineswegs ein geschlossenes, abschließend sortiertes Weltbild haben.“ 

Sich auf diese Widersprüchlichkeit einzulassen und da auch einzuhaken ist nicht immer einfach, aber es nicht zu tun wäre eine verpasste Chance, genau diese Menschen zu gewinnen. 

Auch Menschen mit Migrationsgeschichte finden sich im „unsichtbaren Drittel“ wieder. Lässt sich daraus eine spezifische Aufgabe für Migrantenorganisationen ableiten? 

Ich möchte keine Aufgaben verteilen, aber das ist in der Tat ein Ergebnis, das wir selbst hochspannend fanden. Wir wissen zwar um die Schwächen des Begriffs „Migrationshintergrund“, da ihn viele als stigmatisierend empfinden und er wenig über die Lebensrealität der Menschen aussagt.

Dennoch finden wir die Erkenntnis sehr wichtig, dass es auf Basis unseres Forschungsansatzes (der andere Dinge in den Fokus stellt) oft auch Menschen mit persönlicher oder familiärer Migrationsgeschichte sind, die weniger zu Wort kommen und öfter das Gefühl haben, einsam zu sein und keine Unterstützung zu erfahren. Dies gilt zum Beispiel für die Pragmatischen, den gesellschaftlichen Typ mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte in unserer Studie. Sie sind besonders jung und haben kaum Bezug zur Gesellschaft im „Großen“, weil sie selten in abstrakten gesellschaftlichen Kategorien denken und deshalb mit gängigen Schlagworten wie „Solidarität“, „offene Gesellschaft“ oder „Teilhabe“ nicht immer etwas anfangen können. Wer sie ansprechen will, sollte sich stattdessen auf ihre eigene unmittelbare Lebenswirklichkeit beziehen.

Den Pragmatischen ist ihr persönliches Fortkommen sehr wichtig. Wir empfehlen allen, die sich für sie interessieren, in der Interaktion das in den Fokus zu stellen. Für Migrantenorganisationen gilt das genauso. 

Literatur