Polarisierung

Datum: 05.12.2023

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In Kürze: Bei hitzigen Debatten in Deutschland entsteht oft der Eindruck einer gespaltenen Gesellschaft mit nur zwei Lagern. Wissenschaftliche Untersuchen zeigen jedoch, dass zwischen diesen Polen viele Menschen mit differenzierten Meinungen existieren. Der Wissenschaftler Steffen Mau vergleicht die deutsche Gesellschaft daher mit einem Dromedar statt einem Kamel. Im Gegensatz zu einem Kamel mit zwei Höckern sieht Mau einen großen Höcker in der Mitte, der zu den Seiten auseinandergeht. Diese Mitte der Gesellschaft könnte den Zusammenhalt stärken, ihre Stimmen müssen aber gehört werden, um Polarisierungen zu verhindern. Konstruktive Gespräche und Verständnis wirken Polarisierungen entgegen und fördern den Zusammenhalt.

Wie stark hält unsere Gesellschaft zusammen?

Wenn in Deutschland über wichtige Themen debattiert wird, prallen die verschiedenen Meinungen seit Jahren immer heftiger aufeinander – egal ob es um Einwanderung, Klimaschutz oder Corona geht. Es scheint, als ob sich zwei Lager gegenüberstehen, die nur wenig miteinander anfangen können. So entsteht der Eindruck, alle müssten sich entscheiden: Entweder bin ich auf der Seite der Leute, die weltoffen und für Einwanderung sind, nur Rad, Bus und Bahn fahren wollen und eine Corona-Impfpflicht gut finden. Oder ich bin bei denjenigen, die national denken, Einwanderung streng begrenzen wollen, weiterhin vor allem ihr Auto nutzen und alle Corona-Einschränkungen schlecht finden.

Wir gegen die?

Wenn es immer wir gegen die heißt, tut das der Gesellschaft aber nicht gut, und das merkt man an der Stimmung, die aggressiver wird. Bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. denken wir deshalb, dass es klüger wäre, nicht nur auf diese beiden Lager zu schauen. Denn viele wissenschaftliche Untersuchungen (siehe More in Common 2019, Open Society European Policy Institute 2019) zeigen, dass es zwischen den beiden gesellschaftlichen Polen große Gruppen gibt, die sich gar nicht in die beiden Lager einsortieren lassen. Oder sie tendieren je nach Thema in verschiedene Richtungen. Menschen aus diesen Gruppen sagen ihre Meinung aber nicht so laut oder haben sich nicht festgelegt. Viele von ihnen haben keine Lust mehr zu diskutieren, weil die Stimmung so aufgeheizt ist.
Die Organisation more in common hat die Leute in Deutschland in sechs gesellschaftliche Gruppen eingeteilt, die alle etwa gleich groß sind.

Das Schaubild der Organisation More in Common verortet sechs gesellschaftliche Gruppen in einem Diagramm. Die X-Achse „Umgang mit gesellschaftlichem Wandel“ zeigt auf die beiden Pole „affin“ und „avers“. Die Y-Achse „Orientierung im Gemeinwesen“ reicht von „gering“ bis mittel. Es werden sechs gesellschaftliche Gruppen identifiziert. Je zwei davon werden anhand ihrer gleichen Lage auf der Y-Achse nochmals zu Paaren zusammengefasst. Eine große Orientierung im Gemeinwesen weißen die beiden sogenannten „gesellschaftlichen Stabilisatoren“ auf. Diese sind zum einen die Gruppe der Involvierten, welche dem Umgang mit gesellschaftlichem Wandel eher affin gegenübersteht, sowie die Gruppe der Etablierten, welche gesellschaftlichem Wandel eher avers gegenübersteht. Die sogenannten gesellschaftlichen Pole, nämlich die Offenen und die Wütenden, weisen eine mittlere Orientierung im Gemeinwesen auf. Die Offenen sind dabei sehr wandelaffin, während die wütenden sehr wandel-avers sind. Das dritte Paar, das sogenannte unsichtbare Drittel, hat eine geringe Orientierung mit dem Gemeinwesen. Die Pragmatischen liegen dabei genau in der Mitte der Skala zum Umgang mit gesellschaftlichem Wandel. Die Enttäuschten sind hingegen eher wandel-avers.
Die Organisation More in Common kann in ihrer Studie zeigen, dass es nicht zwei große, sich gegenüberstehende gesellschaftliche Gruppen gibt, sondern sechs Gruppen, die alle in etwas gleich groß sind. Quelle: More in Common 2019: 13

Dromedar statt Kamel

Auch der Wissenschaftler Steffen Mau sagt, dass die Gesellschaft gar nicht so gespalten ist wie es in Social-Media-Kommentarspalten oder in den Nachrichten erscheint. Er vergleicht das mit einem Kamel und einem Dromedar (vgl. Mau 2022). Steffen Mau sagt, es gebe nicht die zwei Höcker an den Seiten, zwischen denen eine große Lücke ist. Stattdessen gebe es einen großen Höcker in der Mitte, der an den Seiten auseinandergeht. Die deutsche Gesellschaft, findet Steffen Mau, gleicht also einem Dromedar, keinem Kamel.

Die Grafik zeigt ein Kamel mit zwei Höckern und ein Dromedar mit einem Höcker. Das Kamel ist dabei durchgestrichen.
Laut Steffen Mau gleicht die deutsche Gesellschaft nicht einem Kamel, weil sich eben nicht zwei gespaltene Lager gegenüberstehen. Sie ähnelt eher einem Dromedar, weil sie eine große gesellschaftliche Mitte besitzt und nur wenige Menschen an den Rändern radikalere Ansichten haben. Quelle: Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. nach Steffen Mau

Das ist erst einmal eine gute Nachricht, weil es bedeutet, dass viele Menschen differenzierte Meinungen haben und nicht radikalisiert sind. Diese Leute in der Mitte der Gesellschaft könnten den Zusammenhalt fördern und Brücken zwischen den weiter auseinanderliegenden Lagern bauen.
Aber solange viele Menschen in der Mitte wenig gesehen werden und solange ihre Stimmen nicht zu hören sind, besteht die Gefahr, dass sich die öffentliche Spirale von Aggression und Hass immer weiterdreht. Auch kann passieren, dass einige Menschen in der Mitte immer unzufriedener werden und sich irgendwann auch radikalisieren, und radikale Parteien wählen, die schließlich immer mehr Stimmen bekommen. Und dann gibt es am Ende wirklich eine polarisierte Gesellschaft.

Reden gegen Polarisierung

Gegen diese Dynamik müssen und können alle etwas tun. Die Regierung und die Parteien sollten versuchen, besser mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die sich durch keine Partei vertreten fühlen.
Aber auch Vereine und andere Organisationen können etwas beitragen, genauso wie jede und jeder Einzelne im eigenen Umfeld. Zum Beispiel, indem sie sich fragen, wo die eigenen Grenzen liegen, mit welchen Leuten sie sprechen wollen und mit welchen das nicht mehr geht. Dazu gehört es, genau hinzusehen, sich für den einzelnen Menschen zu interessieren und zu schauen, wie dieser wirklich tickt – und ihn eben nicht vorschnell in ein Meinungslager einzusortieren, in das er vielleicht gar nicht hineingehört. Natürlich gehört dazu auch, sich zu streiten und die eigene Haltung auszudrücken. Aber es ist wichtig darauf zu achten, wie miteinander gesprochen wird und worüber gesprochen werden kann, ohne dass die Situation eskaliert.

Wir für Zusammenhalt

Denn wir bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. sind überzeugt: Wenn ganz unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch kommen, ohne aggressiv zu werden oder sich zu verurteilen, wenn sie einander zuhören und versuchen einander zu verstehen, dann passiert es seltener, dass ein wir gegen die entsteht. Konflikte gibt es dann noch immer, aber sie werden lösungsorientierter ausgetragen. Wichtig ist, dass sich mehr Menschen der Gesellschaft zugehörig fühlen können, dann wird auch der Zusammenhalt gestärkt.