In Kürze: Eine innovative Methode der politischen Bildung zur Stärkung der Debattierkultur, ist das „Debatten-Café Stimmungsbarometer“. Entwickelt vom Bundesverband russischsprachiger Eltern e.V. bietet die Methode eine Plattform für die Äußerung von angestauten Ängsten und Bedürfnissen der Mitglieder des Vereins. Zunächst wählen die Organisator:innen ein Thema für die Debatte aus. Mithilfe eines Stimmungsbarometers werden dann die Meinungen der Teilnehmer:innen auf einer Skala eingeordnet. Durch die Wahl von provokanten Thesen entsteht schnell eine lebhafte Diskussion. Das Format fördert Reflexion, Dialog und Kommunikationskultur, besonders in der „beweglichen Mitte“ der Gesellschaft.
Im Jahr 2022 hat der Bundesverband russischsprachiger Eltern e. V. im Rahmen des Projekts „Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft“ ein neues und innovatives Format der politischen Bildung auf den Weg gebracht: das „Debatten-Café Stimmungsbarometer“.
Dabei geht es zum einen um die Stärkung der Debattierkultur innerhalb der jeweiligen Mitgliederorganisationen und darum, den Anwesenden eine Plattform zur Äußerung ihrer angestauten Ängste, Ärgernisse und Bedarfe zu bieten.
Das Wort „Stimmungsbarometer“ verweist auf ein weiteres Ziel des Formats. Das Geäußerte soll visuell messbar werden. Dadurch kann man Erkenntnisse darüber gewinnen, ob die Menschen in den jeweiligen Vereinen in Bezug auf die debattierten Themen der sogenannten „beweglichen Mitte“ zugerechnet werden können. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von skeptisch eingestellten bzw. ideologisch nicht festgelegten Vertreter:innen der Gesellschaft.
Debatten durch Kontroversität
Wie aber sieht nun das Ganze in der praktischen Umsetzung aus? In den meisten Fällen wird das Thema der Debatte selbst gewählt. Dabei gehen die Organisator:innen von den aktuellen Interessen und Redebedarfen der Menschen in den jeweiligen Vereinen aus. In einzelnen Fällen liefert das Projektteam den Organisator:innen Ideen und Rahmen zur Wahl eines optimalen Themas.
Ist dieses einmal gefunden, erarbeitet das Projektteam anschließend in Abstimmung mit dem/der Organisator:in sechs bis acht themenbezogene Thesen, die als Impulse für die Debatte dienen. Dies gelingt unter anderem durch eine provokative, überspitzte Formulierung. Hier ein paar ausgewählte Beispiele:
- „Die ethnische und kulturelle Vielfalt könnte ein Hindernis/Störfaktor auf dem Weg zum friedlichen Zusammenleben in Deutschland sein.“
- „Die traditionellen/etablierten Medien versuchen oftmals die Wahrheit zu verschleiern und den Menschen ein manipuliertes Bild des Geschehens aufzuzwingen.“
- „Kriege und die globale Erwärmung führen zur massiven Fluchtbewegung aus den Ländern des globalen Südens, womit Deutschland nicht fertig wird.“
Die Rolle der Moderator:in
Der/Die Moderator:in stellt den Teilnehmer:innen jeweils eine These vor (visuell und mündlich) und gibt ihnen anschließend die Möglichkeit, sich innerhalb von etwa zwei Minuten auf einer Skala von minus fünf bis plus fünf zu positionieren. Dabei steht minus fünf für eine komplette Ablehnung der These und plus fünf für volle Zustimmung. Je nach Intensivität der subjektiven Einschätzung kann man sich auch in dem Bereich dazwischen, also zum Beispiel bei plus zwei, minus drei oder null, positionieren, wobei die letztere Wahl für eine gänzlich neutrale Position steht.
Sobald sich die Teilnehmenden für eine Zahl entschieden haben, werden sie gebeten, sie aufzuschreiben und dem/der Moderator:in zu zeigen. Dadurch bekommt er/sie eine gute Übersicht über die verschiedenen Positionierungen zur jeweiligen These, kann eine strukturierte Debatte aufbauen und überlegen welche Teilnehmenden am besten gegeneinander debattieren könnten.
Durch geschickt formulierte Fragen animiert er/sie die Teilnehmenden dazu, ihre Positionen durch Argumente zu untermauern, Gegenargumente zu liefern oder darauf zu antworten. Daraus entwickelt sich häufig eine temperamentvolle Debatte. Der Respekt bleibt gewahrt, denn der/die Moderator:in achtet darauf, dass die rote Linie (Beleidigungen, Diskriminierung) nie überschritten wird, und greift im Notfall ein.
Sollten sich bei einer These die meisten oder gar alle Teilnehmenden auf fast dieselbe Position festlegen, nimmt der/die Moderator:in die jeweils entgegengesetzte Position ein. Dabei greift er/sie auf bekannte populistische Argumente sowie eine entsprechende Rhetorik zurück und versucht die Gruppe zu einer Debatte gegen ihn/sie zu bewegen. Für die Anwendung dieser Art der Moderation und Leitung einer Debatte braucht es Erfahrung: jahrelange Arbeit im sozialen Bereich, insbesondere der politischen Bildung, eine gute Kenntnis der aktuellen gesellschaftspolitischen Themen und Übung im Umgang mit Publikum, da man eine eventuell unbequeme Rolle (Populist:in, Rechte:r, Rassist:in) einnehmen und den Dialog aus dieser Perspektive führen muss.
Fazit
Die Ergebnisse der bereits durchgeführten Cafés zeigen, dass dieses Format viele Menschen dazu anregt, über für sie scheinbar feststehende Wahrheiten zu reflektieren und sich einem Dialog darüber zu öffnen. Ein solches Resultat ist ganz im Sinn der Arbeit mit der ‚beweglichen Mitte ‘.
Zudem sehen viele Leiter:innen der jeweiligen Organisationen einen starken Impuls für die Professionalisierung der Kommunikationskultur ihrer Mitglieder und wünschen sich eine regelmäßige Durchführung solcher Debattenformate.
Die Stimmungen der jeweiligen Cafés, die Positionierungen der Teilnehmenden, werden auf einer Skala anonym festgehalten und später vom Projektteam ausgewertet.
Autor
Michael Weinberg
ist Projektkoordinator des Kompetenznetzwerks für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft beim Bundesverband russischsprachiger Eltern e.V.
Literatur
Die Publikation „Blickpunkt Migrationsgesellschaft: Im Dialog mit der beweglichen Mitte“ zeichnet nach, wie gesellschaftliche Dialogräume geschaffen werden können, in denen konstruktive Gespräche zwischen Menschen mit unterschiedlichen politischen Positionen wieder leichter möglich werden. Besondere Zielgruppe hierbei ist die „bewegliche Mitte“ der Gesellschaft, die sich angesichts polarisierender Debatten immer mehr zurückgezogen hat.