MEMO-Studie zeigt „Erinnerungsmüdigkeit“ beim Thema NS-Vergangenheit auf. Schlussstrichdebatte: Erinnern? Nein Danke!

Autor:In: Anastasia Gorokhova

Datum: 01.08.2025

  • Polarisierung
  • Geschichte
  • Demokratie
  • Politische Konfliktfelder
  • Dialoggestaltung
  • Praxisbeispiele

In Kürze: Erstmals seit Beginn der Memo-Studie der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) und dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld fordert eine Mehrheit der Befragten einen „Schlussstrich“ unter der deutschen NS-Vergangenheit ziehen.

Wie spricht man mit Menschen, die nicht mehr über die Verbrechen der Vergangenheit sprechen wollen, in Zeiten in denen der Rechtsdruck immer größer wird?
Was bedeutet das für Erinnerungsarbeit und kann eine Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte einfach abgeschlossen sein? Wie sprechen wir als Gesellschaft über etwas, was 80 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs immer noch zu schwer zum Ansprechen ist und: müssen wir das überhaupt?

Die aktuelle Studie der Universität Bielefeld und der Stiftung EVZ zeigt das erste Mal seit
2017 ein besorgniserregendes Ergebnis: Mehr als ein Drittel der Befragten – über 38%
wollen, dass „ein Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit gezogen werden soll“. In
früheren Jahren lag der Wert teils deutlich unter 30%.

Die Studie zeigt außerdem, dass vor allem AFD-Wähler:innen und Menschen im mittleren
Alterbereich diese Aussage befürworten. Jüngere, Ältere, sowie Menschen mit höherem
Bildungsabschluss lehnen dies eher ab, sind aber mit 37% in der Minderheit. Außerdem
fordert eine Mehrheit von fast 44%, „man solle sich doch lieber gegenwärtigen Problemen“
widmen.

Was steckt hinter dieser Entwicklung?

Die Studienautor:innen nennen als mögliche Ursache unter anderem eine wachsende „Erinnerungsmüdigkeit“: ein Gefühl der Überforderung durch komplexe historische Zusammenhänge sowie eine gewisse Distanzierung von nationaler Verantwortung. In einer früheren Studie wurde bereits darauf hingewiesen, dass sie Erinnerungskultur vor allem als „von oben“ vermittelt, erleben. Zu „von oben“ gehört auch schulische Bildung, Gedenktage, offizielle Reden zum Thema, etc.

So einige werden sie wahrscheinlich an Schulausflüge zu Gedenkstätten erinnern und TV- Dokus im Geschichtsunterricht über Zeitzeugen, die den Holocaust überlebt haben. Für
die meisten sicherlich sehr einschneidende Erlebnisse. Aber waren sie einschneidend
genug, um sich danach auch freiwillig weiterhin mit dem Thema auseinanderzusetzen und
zum Beispiel auch mit der eigenen Familiengeschichte?

Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld hat
2020 bereits durch eine Umfrage gezeigt: die Befragten schätzten nur etwa ein Drittel der
Deutschen zu den Täter:innen. Und nur 23 % gaben an, dass ihre Familienmitglieder dazu
gehört hätten. 36 % verorteten ihre Familie eher bei den Opfern. „Meine Großeltern/Eltern
waren im Widerstand“ ist ein Satz, der sich bei Nachforschungen nur bei den wenigstens
Familien bewahrheiten würde. Denn nur weniger als 1% der Bevölkerung war es wirklich.

Freiwilligkeit – der Schlüsse für effektive Erinnerungsarbeit

Die MEMO-Studie von 2025 bestätigt das, was Expert:Innen aus dem Bereich
Erinnerungsarbeit wahrscheinlich schon lange wissen: Erinnerung wirkt dann besonders
nachhaltig, wenn sie freiwillig geschieht – nicht wenn sie verordnet wird. Menschen, die
aus eigenem Antrieb Orte der Erinnerung aufsuchen, sich für historische Biographien
interessieren und vielleicht sogar die Akte des Großvaters im Bundesarchiv anfordern.

Aber auch, wenn man sich die Frage stellt: Was war eigentlich in meiner Stadt, in meiner
Nachbarschaft während der NS-Zeit? Antworten auf diese Fragen zu finden, ist nicht einfach und braucht Zeit und ehrliches Interesse. Diejenigen, die beschließen aus eigenen Willen Antworten zu finden, entwickeln ein deutlich reflektierteres Verhältnis zur NS-Vergangenheit, sagt die Studie. Diese Möglichkeiten zu schaffen ist vielleicht eine der
wichtigsten Aufgaben im Bereich Erinnerungsarbeit und die Ergebnisse der Studie
vielleicht eine Chance zu versuchen einen Dialog mit Befürwortern der
Schlussstrichdebatte aufzubauen.

Warum ist solch ein Dialog wichtig?

Viele Beispiele in unserer heutigen Welt und zeigen politische Konflikte, in denen der Moment für konstruktive Gespräche nicht mehr gegeben ist. Das wiederum sollte uns motivieren, jede Chance dafür zu nutzen es zu versuchen, so lange es geht. Für die Erinnerungsarbeit heißt es damit auch sich neuen Herausforderungen zu stellen und neue Konzepte zu entwickeln, Menschen anders „abzuholen“, als früher: sowohl in Online, – als auch Offlinebereichen.

Positive Beispiele gibt es: Das kürzlich eröffnete NS-Dokumentationszentrum in Freiburg
im Breisgau ist ein solches. Anhand lokaler, persönlicher Biographien wird die Geschichte der Stadt zur NS-Zeit erzählt: Namen von Opfern, Täter:innen, Mitläufer:innen, Widerstandskämpfer:innen werden in den Freibruger Alltag von damals gesetzt. Ein Museum, was auch diverse Workshops anbietet und mit unterschiedlichen Formaten arbeitet. Oder etwas das Netzwerk „Erinnern vor Ort“ – was lokale Jugendgeschichtsprojekte im ländlichen Raum unterstützt und mit anderen vernetzt. Formate, die Kritiker:innen der Erinnerungsarbeit ansprechen ist eine Herausforderung, die diesen und ähnlichen Projekten noch bevorsteht.

Autorin

Anastasia Gorokhova

Freiberufliche Journalistin und Autorin für Film und Fernsehen

Literatur

  • Leon Walter, Jonas Rees, Jonathan Pimpl & Michael Papendick (2025): Gedenkanstoß MEMO-Studie. Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG); Universität Bielefeld// Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, Berlin