Erschöpfte Gesellschaft

Datum: 30.05.2024

  • Demokratie
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In Kürze: Die Corona-Pandemie und andere Herausforderungen haben den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Vertrauen in die Politik geschwächt. Diese Belastungen führen zu einer Art posttraumatischen Zustand, insbesondere in Ostdeutschland, wo die Bevölkerung mit den Umbrüchen seit der Wende konfrontiert ist. In dieser erschöpften Atmosphäre finden rechtspopulistische Parteien Anklang, die einfache Lösungen versprechen. Expert:innen empfehlen eine Politik, die der Bevölkerung Hoffnung und Unterstützung bietet.

Die Rahmenbedingungen, die unserer Vorstellung von einer funktionierenden, atmenden Demokratie ausmachen, scheinen zunehmend unter Druck zu geraten. Erschütterungen finden statt. Die Lust, sich jetzt erst recht für Demokratie und das Zusammenleben in der Gesellschaft einzusetzen, ist vielen Menschen abhandengekommen. Alena Buyx, die Vorsitzende des deutschen Ethikrates, bezeichnete dieses Phänomen im März 2024 in einer Podiumsdiskussion als gesellschaftliche Erschöpfung. Einen engen Zusammenhang sieht Buyx mit der Belastung vieler Menschen durch die Coronapandemie, die tief in das private Leben eingedrungen sei, und von vielen neuen Belastungen gefolgt würde. Was ist an dieser These dran?

Erschöpfte Gesellschaft schon 2022 – Auswirkungen von 24 Monaten Pandemie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Vertrauen in die Politik

Bereits im Februar 2022 zeigte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, dass nach 24 Monaten der Corona-Pandemie der gesellschaftliche Zusammenhalt gelitten habe. Nachdem zu Beginn der Pandemie im ersten Halbjahr 2020 der Zusammenhalt sogar stärker wurde, waren die Werte im Februar 2022 teilweise deutlich gefallen.

Auch das Vertrauen in die Politik habe gelitten, so die Bertelsmann-Studie. Während zu Beginn der Pandemie das Vertrauen in und die Zufriedenheit mit Regierung und Demokratie anstiegen, verzeichnete die Umfrage im Februar 2022 ein Absinken unter die Ausgangswerte vor der Pandemie. So sagten unmittelbar vor dem ersten Lockdown im Februar und März 2020 24 Prozent der Befragten, dass sie großes oder sehr großes Vertrauen in die Bundesregierung haben. Im Sommer 2020 verzeichnet die Bertelsmann-Stiftung fast eine Verdoppelung auf 45 Prozent, im Februar 2022, waren gerade einmal 18 Prozent noch dieser Auffassung. Besorgniserregend ist insbesondere, dass Anfang 2022 nur noch weniger als die Hälfte der Deutschen uneingeschränkt zufrieden mit der Demokratie ist.

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Das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen und die Menschen zu ermutigen, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, sind auch zentrale Anliegen des Soziologen Steffen Mau. Seiner Ansicht nach ist unsere Gesellschaft weniger gespalten, als es in den Medien erscheint: laute Randmeinungen übertönen oft die „stille Mitte“. Um den Dialog zu fördern und die gesellschaftliche Erschöpfung zu lindern, ist es entscheidend, dieser stillen Mitte mehr Gehör zu verschaffen.

Deutsche Gesellschaft ist traumatisiert

Auch der Berliner Sozialforscher Klaus Hurrelmann sieht die deutsche Gesellschaft nach der Corona-Pandemie als sehr belastet und erschöpft. In einem Interview mit der „taz“ vom 4. August 2023 verglich er die aktuelle Stimmungslage sogar mit einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Diese beschreibt er damit, dass Menschen unter sehr hohem Stress, unter Hilflosigkeit und starker Belastung leiden. Sie kommen mit ihren Lebensherausforderungen nicht zurecht, weil sie aus dem Rhythmus geraten sind.

Es sei ein Gefühl von Ohnmacht, sagt Hurrelmann. Nach der Pandemie, so der Soziologe, kämen die Klimakatastrophe, die wir während der Pandemie etwas verdrängt haben, und all die anderen Krisen hinzu. Sie erinnern daran, dass man erst vor Kurzem Ohnmachtsgefühle hatte. Das schaffe Unsicherheit, Pessimismus und große Erschöpfung, konstatiert Hurrelmann.  

Veränderungserschöpfte Gesellschaft in Ostdeutschland

Speziell für die ostdeutsche Gesellschaft diagnostiziert der Makrosoziologe Steffen Mau in einem Vortrag im Mai 2022, dass Teile der ostdeutschen Gesellschaft veränderungserschöpft seien. Gründe sieht er u.a. im Transformationsgalopp der 1990er Jahre, angefangen mit der siechenden DDR und ihrem Zusammenbruch, über den Systemwechsel und die einschneidenden Transformationserfahrung, die Arbeitsmarktreform unter Schröder bis hin zur Digitalisierung, zum Sommer der Migration 2015/2016 … All das habe, so Mau, viele Gruppen überfordert. Der Soziologe Mau vermutet, dass besonders die Erschütterungen im Kontext der Friedlichen Revolution und der Transformation in Ostdeutschland, ein starkes veränderungserschöpftes Verhalten sowie ein Festhalten an Besitzständen hervorgerufen habe.

Von dieser Situation profitieren Rechtpopulisten

Nach Einschätzung von Klaus Hurrelmann gelingt es der Politik aktuell nicht, in der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken: Wir wissen, wo’s langgeht, es gibt Licht am Horizont. Das läge auch an den ständigen internen Debatten. In einer solchen erschöpften und angespannten Situation sind einfache Antworten auch für Menschen interessant, die nicht zur rechtsextremen Stammklientel gehören. Weil diese einfachen Antworten entlastend seien, so Hurrelmann. Und die AfD böte solche Antworten.

Im aktuellen politischen Diskurs haben die rechten Populisten ein Angebot in der Tasche, so der Soziologe Steffen Mau, das die Menschen von Zumutungen entlaste.

Sie sagen: die Welt muss verändert werden, um sich an Dich anzupassen. Die anderen politischen Parteien haben eine ganz andere Botschaft. Sie sagen: du musst dich ändern, um dich auf eine sich wandelnde Welt einzustellen.

Die Populisten machen also ein Entlastungs- und Anerkennungsversprechen, konstatiert Mau. Die liberalen Kräfte treten den Menschen also mit Veränderungs- und Anpassungszumutungen entgegen. Das kann den Aufruf beinhalten, sich für den Markt zu optimieren, die Aufforderung traditionelle Werte abzustreifen und sich auf eine diverser werdende Kultur einzulassen. In einer erschöpften Gesellschaft, gerade in einer Teilgesellschaft wie der ostdeutschen, die eben in den letzten 30 Jahren sehr viele Veränderungen durchlebt hat, träfe diese Botschaft häufig auf eine Haltung des „nicht schon wieder“, so Mau. Hier trete die Erschöpfung für erneute Veränderungen zutage.

Was kann dagegen getan werden?

Notwendig sei eine ermutigende und ermächtigende Politik, das, was im Englischen so schön Empowerment heißt, schlägt Soziologe Hurrelmann vor. Seiner Einschätzung nach brauche die Bevölkerung von der Regierung dringend ein Gefühl der Machbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit. 

Ähnliches schlägt der Soziologe Steffen Mau vor. Er rät der Politik Lösungen zu schaffen, die die Allgemeinheit als fair und angemessen betrachtet. Das bedeute auch, dass diejenigen Menschen, die skeptisch oder zurückhaltende sind, die sich überfordert fühlen stärker angesprochen werden. Diese Menschen können nicht mit Aufklärungskampagnen angesprochen werden, sondern es gehe bei vielen aktuellen politischen Themen immer auch um die Verknüpfung mit der sozialen Frage.