Eine Gemeinschaftshalle architektonisch umgestalten

Kurt Beck und die Kommunalpolitik

Datum: 09.01.2024

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  • Vorbilder
  • Praxisbeispiele

In Kürze: Im Jahr 1989 wird der damalige Bürgermeister Kurt Beck der kleinen Gemeinde Steinfeld mit einem lokalpolitischen Dilemma konfrontiert, das exemplarisch für viele kommunalpolitische Herausforderungen steht. Eine neu eingerichtete Gemeinschaftshalle führt zur Bildung zweier Lager. Statt Konfrontation entscheidet Beck den Dialog mit beiden Seiten zu suchen. Mithilfe einer unkonventionellen Lösung finden alle Beteiligten einen Kompromiss. Das Beispiel und der historische Kontext verdeutlichen die Schlüsselrolle der Kommunalpolitik in der Stärkung der Demokratie. Sie fördert die direkte Beteiligung der Bürger:innen und beeinflusst maßgeblich das tägliche Leben auf lokaler Ebene.

Die besondere Handlung

Als Kurt Beck 1989 Bürgermeister seines Heimatdorfes Steinfeld wird, sieht er sich mit einem Streit konfrontiert, der beispielhaft für viele kommunalpolitische Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik steht. Im beschaulichen Steinfeld im Süden von Rheinland-Pfalz gibt es Ärger wegen einer kürzlich erbauten Gemeinschafts- und Mehrzweckhalle. Aufgebrachte Anwohner:innen klagen gegen das Projekt, weil sie sich durch den regen Betrieb in und um die Halle herum gestört fühlen. Gerade abends, wenn besonders viele Menschen Veranstaltungen besuchen oder nach dem Sporttraining das Gebäude verlassen, störe die Halle die Ruhe in der Nachbarschaft. Am Ende bekommen die Klagenden Recht. Die Halle muss künftig um 20 Uhr schließen, die Benutzung des Gebäudes zu einem späteren Zeitpunkt ist nicht mehr erlaubt.

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Wenn es darum geht die eigene politische Haltung zu finden, sind Vorbilder ein wichtiger Orientierungspunkt. Besonders in turbulenten Zeiten können sich Menschen bei der Suche nach Identität und Werten an anderen orientieren. Kein Mensch ist jedoch perfekt. Daher ist eine Eingrenzung auf bestimmte Handlungen und Eigenschaften sinnvoll. Für eine Demokratie sind Vorbilder wichtig, da sie vorbildhaftes demokratisches Handeln zeigen und verschiedene Vorstellungen über Demokratie reflektieren.

Allerdings ist schnell klar: Dies widerspricht völlig dem Sinn und Zweck einer Gemeinschaftshalle. Vereinsleben findet naturgemäß abends statt, weil die meisten Beteiligten tagsüber arbeiten und deshalb ihren Hobbys wie etwa dem Engagement im Sportverein oder im Chor nur im Anschluss daran nachkommen können. Viele Steinfelder beklagen nun, dass ihre Freizeitgestaltung entscheidend vom Zugang zur Mehrzweckhalle abhängt.

Ebenso aufgebracht wie zuvor die Anwohner:innen gehen deshalb jene Bürger:innen, die Steinfelds Mehrzweckhalle weiterhin zu den üblichen Zeiten nutzen wollen, vor dem Oberverwaltungsgericht in Berufung. Von Anfang an ist dieses Unterfangen wenig erfolgversprechend. Die Niederlage vor Gericht steht eigentlich schon fest, die Fronten zwischen den Steinfeldern scheinen sich mehr und mehr zu verhärten. Es ist nicht das erste Mal, dass in deutschen Dörfern oder Städten ein Streit wie dieser jahrzehntelang Unruhe und Ärger unter den Einwohner:innen schürt.

Bürgermeister Kurt Beck möchte genau dies in Steinfeld vermeiden. Er sucht deshalb das Gespräch mit den betroffenen Nachbar:innen der Gemeinschaftshalle, hört sich ihren Ärger über die Halle und inzwischen wohl auch über ihre Mitbürger:innen an, die aus ihrer Sicht vermutlich schlicht uneinsichtig erscheinen. Am Ende gelingt es Beck in der Nacht vor dem entscheidenden Gerichtstermin, einen Kompromiss zwischen den streitenden Lagern auszuhandeln: Der Haupteingang der Gemeinschaftshalle wird auf die Hallenrückseite verlegt. Dies ist zwar architektonisch nicht unbedingt schön, aber die Nutzer:innen können das Gebäude nun betreten und verlassen, ohne die Anwohner:innen zu stören. Zudem werden die Wege und Zugänge zum Gebäude bepflanzt, was zusätzlichen Lärm- und Sichtschutz bietet.

Kurt Beck (*1949) wächst als Sohn eines Maurers und einer Hausfrau in Steinfeld im südlichen Rheinland-Pfalz auf. Früh entwickelt er aufgrund persönlicher Ausgrenzungserfahrungen ein starkes Gerechtigkeitsgefühl, das ihn während seiner späteren politischen Karriere durchweg begleitet. Nach der Volksschule absolviert er eine Ausbildung zum Elektromechaniker bei der Bundeswehr und ist dort anschließend als Zivilbeschäftigter tätig. 1971 erwirbt Beck nebenberuflich an der Abendschule die mittlere Reife. Ein Jahr später tritt er aus Begeisterung für Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie wie etwa Willy Brandt in die SPD ein. Seit 1974 ist Beck Mitglied des Kreistags Südliche Weinstraße. Seit Ende der 1970er Jahre ist er auch Abgeordneter des Rheinland-Pfälzischen Landtages. Zwischen 1989 und 1994 übernimmt Beck das Ortsbürgermeisteramt von Steinfeld, bevor er Landesvorsitzender der SPD und im Oktober 1994 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz wird.

Die Steinfelder Vereine können künftig wieder uneingeschränkt in der Halle trainieren, musizieren oder einfach nur Gemeinschaft erleben, die Nachbar:innen haben ihre Ruhe, ohne sich in ihrer Position als Nörgler:innen verteidigen zu müssen, und die Gemeinde hat Millionen Euro gespart, die im Falle einer Verlegung der Mehrzweckhalle fällig geworden wären. So ist es Beck gelungen, wieder Ruhe und Frieden in Steinfeld herzustellen.

Der historische Kontext

Kommunalpolitik wird zu Recht als Grundstein und Schule der Demokratie bezeichnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft mit extrem zentralistischen Machtstrukturen sind es vor allem die auf kommunaler Ebene Aktiven, die sich selbst und ihren Mitbürger:innen beibringen, was es bedeutet, demokratisch Entscheidungen zu treffen.

Nach zwölf Jahren totalitärer Diktatur müssen die Deutschen praktizierte Mitbestimmung und das Leben in einer Demokratie erst wieder lernen.

Entsprechend werden, auch wenn es mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland wieder Partizipationsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene gibt, diese nicht von heute auf morgen wahrgenommen. Erst verstärkt in den 1970er Jahren führen diejenigen, die in den Neuen sozialen Bewegungen wie der Friedens-, Ökologie- oder Frauenbewegung aktiv sind, gerade auf kommunaler Ebene Aktionen durch und gewinnen Mitstreiter:innen.

Die Kommune, also eine Stadt oder Gemeinde, ist die kleinste politische Einheit der Bundesrepublik. Heute gibt es über 11.000 von ihnen im wiedervereinigten Deutschland. Sie übernehmen wichtige Verwaltungsaufgaben und halten die Infrastruktur aufrecht, auf die sich der Staat und damit auch die deutsche Demokratie stützt. Was für den einen oder die andere auf den ersten Blick wie ein unnötiges Klein-Klein wirken mag, nützt vor allem den Bürger:innen. Denn zentralistisch aufgebaute Staaten haben eine gewisse Vorliebe für Großprojekte aller Art, bei deren Umsetzung sie sich aber wenig um die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung sorgen.

Föderal strukturierte Länder dagegen sind gezwungen, die Menschen vor Ort einzubeziehen und Lösungen zu finden, die von den Bürger:innen akzeptiert werden. So gilt in Deutschland das Subsidiaritätsprinzip. Dieses besagt, dass Probleme auf der politischen Ebene gelöst werden sollen, wo dies am schnellsten und zweckdienlichsten möglich ist. Dadurch ist die Kommunalpolitik nicht einfach nur der verlängerte Arm der Landes- und Bundespolitik, sondern hat eigene Kompetenzen. Die 80 kommunale Selbstverwaltung ist im Grundgesetz festgelegt. Gemeinden verwalten also selbst die ihnen zustehenden Ressourcen, Personal und Strukturen.

Weil kommunalpolitische Entscheidungen besonders in kleinen Kommunen einen begrenzten Personenkreis betreffen, nehmen Menschen sie häufig als nicht so spektakulär und aufregend wahr wie etwa die Bundespolitik oder gar das internationale Weltgeschehen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass die Beteiligung an Kommunalwahlen im Durchschnitt geringer ist als bei Bundes- oder Landtagswahlen, wobei natürlich auch dort stets Luft nach oben ist.

Bei dieser Geringschätzung gegenüber der politischen Arbeit in Gemeinden wird meist übersehen, dass gerade Kommunalpolitiker:innen Entscheidungen treffen, die uns alle in den verschiedensten Lebensbereichen beeinflussen. Infrastruktur wie Strom und Abwasserentsorgung, Bildung, Freizeit und Kultur vom Museum bis zum Freibad sowie die Gestaltung und Pflege des öffentlichen Raumes sind nur Beispiele dafür.

In all diesen Bereichen gibt es für die Bürger:innen viele niedrigschwellige Angebote, sich demokratisch zu beteiligen und dadurch die Stärkung der Demokratie in Deutschland als Ganzes zu unterstützen. Möglichkeiten sind die Wahl des Bürgermeisters und der Gemeindevertretung, Bürgerinitiativen, Ortsvereine von Parteien oder verschiedene Bürgerbeteiligungsverfahren. Darüber hinaus gibt es Vertretungen für Bevölkerungsgruppen, die beispielsweise (noch) nicht wahlberechtigt sind, etwa den Jugendgemeinderat oder den Ausländerbeirat. Viele dieser Angebote haben selbstverständlich ihre Äquivalente auf Landes- oder Bundesebene. Allerdings benötigt es immer Überwindung, politisch aktiv zu werden. Auf kommunaler Ebene, an der Seite von Menschen, die einem bekannt und vertraut sind, fällt vielen dieser Schritt leichter.

Je kleiner eine Gemeinde ist, desto wichtiger sind dabei einzelne Persönlichkeiten. Dies gilt nicht nur bei (Ober-) Bürgermeisterwahlen, die in allen Bundesländern – außer in den Stadtstaaten – als Direktwahlen stattfinden, sondern auch bei Stadt und Gemeinderatswahlen. Dort kennen die Wahlberechtigten diejenigen meist persönlich, die sich zur Wahl stellen, und treffen ihre Wahlentscheidung entsprechend. Man wählt diese oder jene Person, weil man ihr in der Regel nähersteht als den Personen auf den Stimmzetteln bei Bundestagswahlen. Weil man die Motivation dieser Person besser einschätzen kann, traut man ihr das Amt eher zu – oder eben auch nicht. Je größer und damit auch anonymer eine Stadt ist, desto eher werden Wahlentscheidungen hingegen aufgrund der Parteizugehörigkeit getroffen.

Orientierung für heute

Kurt Beck ist einer der Menschen, die die Bedeutung von Kommunalpolitik nicht nur erkennen, sondern sie auch leben. Für ihn ist die wichtigste Aufgabe eines Bürgermeisters, die Diskussionen um Gemeindeangelegenheiten aufrechtzuerhalten, um die Bürger:innen möglichst stark in Entscheidungsfindungsprozesse einzubinden: Hierbei gehe es darum, sich direkt mit den Menschen auseinanderzusetzen und in Austausch mit ihnen zu treten.

Lösungen, gerade auf kommunaler Ebene, sind nur dann nachhaltig und sinnvoll, wenn die Bürger:innen sie verstehen und akzeptieren, auch wenn sie sie möglicherweise nicht voll und ganz unterstützen.

Der Streit um die Steinfelder Gemeinschaftshalle ist ein typisches Beispiel dafür, wie Politiker:innen, Bürger:innen und sonstige Akteur:innen auf kommunaler Ebene um demokratische Entscheidungen ringen. Doch ebenso ist er ein ganz spezieller Fall, der so nur einmal in ganz Deutschland vorkommt. Solche Diskussionen wirken auf Außenstehende nicht selten bizarr und bisweilen lächerlich. Doch überall in Deutschland gibt es Steinfelds und jedes dieser Steinfelds hat seinen eigenen Streit um seine individuelle Mehrzweckhalle. Manchmal kommt diese als neuer Fahrradweg, als renovierungsbedürftiges Schwimmbad oder Schulkantine daher, an der seit Jahren gebaut wird. In jedem Fall als Thema, das die Menschen vor Ort bewegt.

Die wenigsten politischen Entscheidungen werden von allen Bürger:innen gleichermaßen unterstützt. Für Beck geht es deshalb gerade in den Kommunen darum, praktikable Lösungen für Probleme zu finden, auch wenn die am Ende ausgehandelten Kompromisse nicht perfekt sind. Um sich an solchen Problemlösungen zu beteiligen, braucht man keinen Universitätsabschluss. Dies macht Kommunalpolitik aber nicht weniger relevant, sondern nahbar und zugänglich für viele Bürger:innen. Deren Anliegen müssen auf allen politischen Ebenen ernst genommen werden. Auf kommunaler Ebene aber wird im Zweifel schneller und deutlicher sichtbar, wenn Politiker:innen dies nicht tun. Hier zeigt der Fall Steinfeld, dass eine Einigung, wenn alle Beteiligten sie wirklich wollen, auch bei scheinbar verhärteten Fronten noch möglich ist.

Broschüre

Die Broschüre Vorbilder der Demokratiegeschichte stellt zwölf Beispiele von vorbildlichen Einstellungen und Handlungen für die Demokratie vor und zeigt, wie diese konzeptuell-theoretischen Überlegungen in die praktische Geschichtsvermittlung übertragen werden können.