In Kürze: Der Hungerstreik von 1980 in der Versöhnungskirche der Gedenkstätte Dachau gilt als entscheidender Moment für die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung der Sinti:zze und Rom:nja in Deutschland. Unter der Führung von Romani Rose forderten zwölf Sinti:zze die offizielle Anerkennung des NS-Völkermords und das sofortige Ende der polizeilichen Sondererfassung. Der Protest erlangte weltweite Aufmerksamkeit und führte zu politischen Veränderungen. Obwohl nicht alle Forderungen erfüllt wurden, stärkte der Hungerstreik die Position der Sinti:zze und Rom:nja in Deutschland. Als Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti:zze und Rom:nja setzte sich Romani Rose weiterhin gegen die Diskriminierung von Sinti:zze und Rom:nja ein.
Die demokratische Handlung
Am 4. April 1980, es ist Karfreitag, versammeln sich zwölf Sinti:zze in der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau bei München. Ihr Sprecher, der 33 Jahre alte Sinto Romani Rose, kündigt einen Hungerstreik an. Die Hauptforderungen der Streikenden sind die offizielle Anerkennung des NS-Völkermords an den Sinti:zze und Rom:nja und die sofortige Beendigung ihrer polizeilichen Sondererfassung. Vier der Streikenden sind KZ-Überlebende, was dem Protest ein besonderes moralisches Gewicht verleiht. Dazu kommt der außergewöhnliche Ort des Protests. Die evangelische Versöhnungskirche, die den Streikenden von der bayerischen Landeskirche zur Verfügung gestellt wird, ist auf Initiative von KZ-Überlebenden in den 1960er Jahren direkt auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau als Ort der Versöhnung und des Gedenkens errichtet worden. Der Protest der zwölf Sinti:zze, die ab dem 4. April 1980 in dieser Kirche übernachten und jegliche Nahrung verweigern, wird zu einem Medienereignis. Journalist:innen aus dem In- und Ausland berichten täglich. Und zum ersten Mal erleben Sinti:zze und Rom:nja im Nachkriegsdeutschland eine Welle öffentlicher Solidarität. Bürger:innen, Politiker:innen und Prominente wie der Schriftsteller Heinrich Böll, der Journalist Rudolf Augstein und der Musiker Yehudi Menuhin stellen sich hinter die Streikenden.
Nach einigen Tagen spitzt sich die Situation in der Versöhnungskirche zu. Die Hungerstreikenden sind bereits sehr erschöpft und am Rande des körperlichen Zusammenbruchs. Aber sie machen deutlich: Wir geben nicht auf. Die evangelische Kirche vermittelt zwischen dem bayerischen Innenministerium und den Streikenden. Romani Rose wird als ihr Sprecher ins Innenministerium eingeladen. Nach einer 70 siebenstündigen Diskussion ist ein Kompromiss gefunden: Am 12. April 1980 endet der Hungerstreik mit dem Besuch des damaligen Bundesjustizministers Hans-Jochen Vogel in der Versöhnungskirche. Er sagt den Streikenden politische Rückendeckung zu und bezeichnet den Hungerstreik als „ganz wichtigen Anstoß“. Die bayerische Landesregierung versichert, Diskriminierungen gegenüber Sinti:zze und Rom:nja zukünftig abbauen zu wollen. Nicht alle Forderungen der Streikenden sind erfüllt, aber sie können einen Teilerfolg feiern.
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Wenn es darum geht die eigene politische Haltung zu finden, sind Vorbilder ein wichtiger Orientierungspunkt. Besonders in turbulenten Zeiten können sich Menschen bei der Suche nach Identität und Werten an anderen orientieren. Kein Mensch ist jedoch perfekt. Daher ist eine Eingrenzung auf bestimmte Handlungen und Eigenschaften sinnvoll. Für eine Demokratie sind Vorbilder wichtig, da sie vorbildhaftes demokratisches Handeln zeigen und verschiedene Vorstellungen über Demokratie reflektieren.
Der Hungerstreik von Dachau gibt der jungen Bürgerrechtsbewegung der Sinti:zze und Rom:nja in Deutschland großen Auftrieb. Romani Rose, der Sprecher der zwölf Streikenden von Dachau, wird im Februar 1982 Vorsitzender des neu gegründeten Zentralrats Deutscher Sinti:zze und Rom:nja. Im selben Jahr erkennt Bundeskanzler Helmut Schmidt den Völkermord an den Sinti:zze und Rom:nja offiziell an. Aber es dauert noch bis 1995, bis sie als nationale Minderheit in Deutschland anerkannt werden. Seit 2012 gibt es im Berliner Tiergarten auch das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti:zze und Rom:nja Europas. Viel wurde erreicht – und dennoch erfahren Sinti:zze und Rom:nja immer noch Ausgrenzung und Diskriminierung, überall auf der Welt, jeden Tag.
Der historische Kontext
1979 strahlt das deutsche Fernsehen die US-Serie „Holocaust“ aus und löst damit eine große öffentliche Diskussion über den Völkermord an den Juden aus. Fast unbekannt ist dagegen, dass die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik auch die Sinti:zze und Rom:nja betrifft, eine Volksgruppe, die vor über 1.000 Jahren aus Indien Richtung Westen gewandert und seit Jahrhunderten im deutschsprachigen mitteleuropäischen Raum beheimatet ist. Die Nationalsozialisten knüpfen an Diskriminierungen und staatlichen Zwangs- und Überwachungsmaßnahmen an, die sich schon im Kaiserreich und der Weimarer Republik gegen die als „Landfahrer“ bezeichneten Sinti:zze und Rom:nja gerichtet haben. Das NS-Regime bezieht die etwa 30.000 in Deutschland lebenden Sinti:zze und Rom:nja in die rassistischen Bestimmungen der Nürnberger Gesetze von 1935 ein und beginnt, akribisch Daten über sie zu sammeln. Die Ausgrenzungs- und Entrechtungsmaßnahmen, die sich gegen jüdische Menschen richten, werden auch auf Sinti:zze und Rom:nja angewendet. In vielen deutschen Städten werden schon ab 1935 Sammellager für sie errichtet. Dies erleichtert ihre spätere Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager. Rund 500.000 Sinti:zze und Rom:nja aus ganz Europa werden ermordet.
Während nach 1945 der Völkermord an der jüdischen Bevölkerung als Menschheitsverbrechen anerkannt wird und sich auch in der Bundesrepublik Deutschland langsam eine Erinnerungskultur an dieses deutsche Verbrechen etabliert, kommt der 71 „Porajmos“ genannte Völkermord an den Sinti:zze und Rom:nja in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre hinein nicht vor.
Das Grundproblem ist, dass die rassistischen Denkmuster, die zum Porajmos geführt haben, in der Nachkriegszeit ungebrochen weiterexistieren und dazu führen, dass Sinti:zze und Rom:nja weiterhin kriminalisiert werden.
Bezeichnend ist ein Urteil des Bundesgerichtshofes von 1956, das feststellt, dass nicht „rassenideologische Gesichtspunkte“ für die Verfolgung der Sinti:zze und Rom:nja bis 1943 verantwortlich seien, sondern die „asozialen Eigenschaften der Zigeuner“. Diese zutiefst rassistische Einschätzung des obersten deutschen Gerichts offenbart die Haltung und Grundstimmung, die in der Nachkriegszeit gegenüber den Sinti:zze und Rom:nja in der Bevölkerung, vor allem aber auch in Behörden und staatlichen Einrichtungen vorherrschte.
Besonders krass ist die Kriminalisierung der Sinti:zze und Rom:nja in Bayern. Dort gilt bis 1970 eine sogenannte „Landfahrerordnung“, die Grundrechte von Sinti:zze und Rom:nja einschränkt. Bei der bayerischen Kriminalpolizei sammelt eine „Landfahrerzentrale“ bis 1965 persönliche Daten von Sinti:zze und Rom:nja aus dem gesamten Bundesgebiet. Dort verwendet man ohne Skrupel auch die Akten der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ aus der NS-Zeit für die Polizeiarbeit. Hinzu kommen die personellen Kontinuitäten zur NS-Zeit in Polizei und Justiz. So arbeiten in der „Landfahrerzentrale“ der bayerischen Kriminalpolizei nach 1945 Beamte, die unmittelbar am Völkermord an den Sinti:zze und Rom:nja beteiligt waren, ohne jemals dafür belangt worden zu sein. Der Hungerstreik in Dachau richtet sich im Kern gegen diese Kontinuität der Kriminalisierung und verlangt die Herausgabe der „Landfahrerkartei“. In diesem Punkt mauert das bayerische Innenministerium. Die „Landfahrerkartei“ sei längst vernichtet, Akten könnten daher nicht übergeben werden. Auch zu einer politischen Verurteilung der Tätigkeit der „Landfahrerzentrale“ kann sich das Innenministerium damals nicht durchringen.
Ein maßgeblicher Antrieb für Romani Roses Engagement ist seine Familiengeschichte. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Heidelberg geboren, erfährt er früh, dass 13 seiner unmittelbaren Verwandten in Konzentrationslagern ermordet worden sind, darunter auch seine Großeltern im Vernichtungslager Auschwitz und im Konzentrationslager Ravensbrück. Sein Vater, Oskar Rose, hat die NS-Zeit in einem Versteck überlebt. Romani Roses Onkel, Vinzenz Rose, hat das Vernichtungslager Auschwitz sowie medizinische Experimente im Konzentrationslager Natzweiler und die Zwangsarbeit im KZ Neckarelz/Obrigheim überlebt. Vinzenz Rose gründet im Jahr 1972 die erste Selbstorganisation deutscher Sinti:zze, in der Romani Rose schon als junger Erwachsener mitarbeitet. Immer stärker wächst er in die Bürgerrechtsarbeit hinein. 1979 wird Romani Rose zum Vorsitzenden des Verbands Deutscher Sinti gewählt. Der Hungerstreik in Dachau macht ihn international bekannt. Diese 72 Popularität nutzt er für die erfolgreiche Bürgerrechtsarbeit, die er ab 1982 bis heute als Vorsitzender des Zentralrats der Sinti:zze und Rom:nja leitet.
Über Romani Rose
Romani Rose (*1946) kommt in Heidelberg zur Welt, wo er bis 1982 als selbstständiger Kaufmann arbeitet. Die Nationalsozialisten haben 13 Angehörige seiner Familie im Porajmos ermordet, dem Völkermord an den europäischen Sinti:zze und Rom:nja. Rose setzt sich seit über vier Jahrzehnten für die Bekanntmachung des Ausmaßes dieses Genozids und entsprechende Entschädigungsleistungen sowie für Minderheitenrechte und den Schutz vor Diskriminierung ein. Eine der ersten und radikalsten Aktionen seiner Bürgerrechtsarbeit ist der von ihm initiierte Hungerstreik im ehemaligen KZ Dachau 1980. 1982 wird er Gründungsvorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti:zze und Rom:nja. Bis heute ist er Zentralratsvorsitzender, ein Amt, das alle vier Jahre von den Delegierten der Mitgliedsorganisationen des Zentralrats gewählt wird. Seit 1991 ist Rose zudem Geschäftsführer und Vorsitzender des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti:zze und Rom:nja in Heidelberg.
Das vorbildhafte Verhalten
Ein Hungerstreik ist eine radikale Protestform, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet, zunächst vor allem als eine Möglichkeit von politischen Gefangenen, auf ihre Situation und ihre politischen Ziele aufmerksam zu machen. Ab den 1960er Jahren etabliert sich der Hungerstreik als Teil einer politischen Protestkultur auch außerhalb von Gefängnissen. Er wird bis heute von unterschiedlichen Bewegungen genutzt, nicht alle verfolgen dabei demokratische oder menschenrechtliche Ziele. Kann denn ein Protest vorbildhaft sein, der politischen Druck erzeugt, indem die Bereitschaft signalisiert wird, Schaden am eigenen Körper und sogar den Tod hinzunehmen?
Im Falle des Hungerstreiks von 1980 in Dachau wird deutlich, wie sehr die Bewertung verschiedener Protestformen vom historischen Kontext abhängt.
Sinti:zze und Rom:nja sind im Nachkriegsdeutschland eine marginalisierte Minderheit, die während der NS-Zeit unvorstellbares Leid erfahren hat, das aber in dieser Zeit überhaupt nicht anerkannt, geschweige denn entschädigt wird. An die Möglichkeit, Entschädigung für erlittenes NS-Unrecht zu bekommen, ist für diese Gruppe überhaupt nicht zu denken, auch weil Polizei und Justiz damals beharrlich Akten unter Verschluss halten, die zum Nachweis der Verfolgung nötig sind.
Die sich formierende Bürgerrechtsbewegung der Sinti:zze und Rom:nja versucht zunächst mit Demonstrationen und Flugblättern gegen die Marginalisierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung dieser Minderheit vorzugehen. Aber die Proteste und Aktionen verhallen weitgehend ungehört und ohne Echo in der Öffentlichkeit. Nach wie vor werden Sinti:zze und Rom:nja von Polizei und Justiz als kriminell und „asozial“ betrachtet, der geschehene Völkermord wird negiert. Die Gruppe um Romani Rose versucht schon vor dem Hungerstreik, mit dem bayerischen Innenministerium ins Gespräch zu kommen, wird aber brüsk abgewiesen. Daher entschließen sich die zwölf, ihre eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen, um das Nicht-wahrgenommen werden zu durchbrechen. Und das am Ort der NS-Verbrechen, auf die man aufmerksam machen will: dem ehemaligen Konzentrationslager Dachau vor den Toren Münchens. Die Strategie ist mutig, genial und sie geht auf: Endlich werden die deutsche und die internationale Öffentlichkeit auf das Schicksal der Sinti:zze und Rom:nja aufmerksam.
Aber nicht die Strategie ist das Vorbildliche, sondern das Verhalten der Streikenden in dem Moment, als es zu Gesprächen mit dem bayerischen Innenministerium kommt. Romani Rose und seine Gruppe sind klug genug, den Streik zu beenden, 73 obwohl längst nicht alle Forderungen erfüllt sind. Romani Rose weiß in diesem Moment: Die Diskriminierung der Sinti:zze und Rom:nja wird nicht über Nacht aufhören. Aber ab jetzt wird sich nach und nach etwas ändern, der geschlossene Kompromiss mit den staatlichen Stellen wird dazu führen, dass die Bürgerrechtsarbeit ausgeweitet und auf andere Füße gestellt werden kann. Unbeugsamkeit signalisieren, im richtigen Moment nachgeben können und dann kontinuierlich weiterarbeiten und die großen Ziele nicht aufgeben – diese Mischung führt bei Romani Rose zu einem demokratischen Erfolg.
Broschüre
Die Broschüre Vorbilder der Demokratiegeschichte stellt zwölf Beispiele von vorbildlichen Einstellungen und Handlungen für die Demokratie vor und zeigt, wie diese konzeptuell-theoretischen Überlegungen in die praktische Geschichtsvermittlung übertragen werden können.