„Post-Ost“ – Ein Begriff für geteilte Geschichte, Trauma und unterschiedliche Zukünfte

Autor:In: Anastasia Gorokhova

  • Polarisierung
  • Geschichte
  • Demokratie
  • Dialoggestaltung
  • Grundlagen
  • Kurz erklärt

In Kürze: Migrant:innen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion kennen es wahrscheinlich alle: Egal, wie komplex deine Familiengeschichte ist, man wird meist als „aus dem Ostblock“ oder „Russischsprachig“ gelabelt. Genauer Hingucken? Eher selten. Die Begriffe hinterfragen? Ein Prozess, der erst über 30 Jahren nach dem Zerfall der UdSSR langsam beginnt. Auch für die Menschen aus der Community selbst war es oftmals schwierig zu definieren, wer sie eigentlich sind. Ukrainisch mit polnischen Großeltern? Russisch mit ukrainischem Elternteil? Belarussich, aber russischsprachig? Russisch, aber mit deutschen Wurzeln? Tatarisch, aber mit russischer Staatsbürgerschaft? Fast 70 Jahre Sowjetunion haben in den Familien Spuren hinterlassen, die sich meist durch mehrere Länder ziehen. Da durchzublicken, war schon immer schwierig. Aber seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 hat die Frage nach – wer sind sie und wir können sie sich politisch korrekt bezeichnen – eine neue Dringlichkeit bekommen.

Woher kommt der Begriff?

In einem Artikel bei Fluter 2022 schreibt der Journalist, Aktivist und Antidiskriminierungstrainer Sergej Prokopkin darüber, wie Menschen mit postsowjetischen Wurzeln in Deutschland nach einem Begriff suchen, der nicht vorbelastet ist und Raum lässt für Ambivalenz und Zugehörigkeit zugleich. Der Artikel erscheint unter der Überschrift „Generation PostOst“ und findet großen Zuspruch innerhalb der Community. Vor allem zivilgesellschaftliche Initiativen greifen ihn aktiv auf. Auch Menschenrechtsorganisationen, die sich seit 2022 gegründet haben, nutzen diesen Begriff, manchmal ist er sogar Teil ihres Namens, wie z.B. bei  „Equal PostOst“ – einer NGO, die sich für Rechte queerer Menschen aus und in Post-Ost Ländern einsetzt. Im Jahr 2025 ist der Begriff in zivilgesellschaftlichen Kreisen etabliert, in der Wissenschaft oder den Medien allerdings noch nicht ganz angekommen. Aber um wen geht es bei „Post-Ost“ so genau?

Wer ist gemeint?

„Post-Ost“ beschreibt Menschen und Communities mit biografischen oder familiären Wurzeln im postsowjetischen Raum. Das können Nachkommen von Migrant:innen aus Kasachstan, der Ukraine, Russland, Georgien oder den Baltischen Ländern sein. Das sind aber auch Spätaussiedler:innen und jüdische Kontingentflüchtlinge, Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine, die nun in Deutschland leben, aber auch Exilruss:innen, die Putinrussland aus politischen Gründen verlassen haben. Es sind genauso auch Migrant:innen aus postsowjetischen Ländern, die seit 20 Jahren in Deutschland leben, eine deutsche Staatsbürgerschaft haben und oftmals nie in den Heimatländern ihrer Eltern gewesen sind. Was genau interpretiert man in „Post“ und „Ost“ hinein?

„Post“ verweist auf das „Danach“ – auf eine Zeit nach den sozialistischen Systemen und ihrer ideologischen Ordnung. „Ost“ wiederum benennt einen kulturell-historischen Raum, der im Westen lange als einheitlich galt, in Wirklichkeit aber äußert unterschiedlich und vielfältig ist.

„Post-Ost“ ist also keine ethnische, sondern eine erfahrungsbasierte Charakteristik. Und deswegen funktioniert der Begriff als Brücke zwischen all den unterschiedlichen Biografien, Erfahrungen, Herkunftsländern und Sprachen. Und was seit 2022 besonders wichtig ist: Es ist zugleich auch eine Abgrenzung gegenüber einer russlandzentrierten Sichtweise, die diese Vielfalt traditionell verdeckt hat.

Warum ist der Begriff so wichtig?

In erster Linie benennt dieser Begriff eine gemeinsame Erfahrungsbasis, ohne wirklich nationale Grenzen zu fixieren oder gleichzeitig alle unterschiedlichen Erfahrungen auszuschließen.

Zweitens, weil er einen machtkritischen Blick ermöglicht: Er markiert die Differenz zu kolonialen und imperialistischen Erzählungen, die den postsowjetischen Raum lange als russische Einflusszone verstanden haben und dabei die Unterdrückung von Völkern, Nationen und Sprachen und Minderheiten im postsowjetischen Raum, aber auch in Russland nicht im Blick hatten.

Drittens, weil er Identität als etwas Bewegliches versteht: geprägt von Migration, Hybridität und multipler Zugehörigkeit. Gerade im Kontext der Vollinvasion in der Ukraine erlaubt „Post-Ost“ ein differenziertes Sprechen über Herkunft, Trauma, Solidarität und Verantwortung. Es macht die gemeinsame Geschichte sichtbar, aber hinterfragt diese auch und zeigt, dass eine gemeinsame Vergangenheit nicht gleichzeitig auch eine gemeinsame Zukunft oder gar Sprache bedeutet.

Warum dieser Begriff der einzige ist, der wirklich funktioniert

„Post-Ost“ als Begriff ist offen und inklusiv. Er lädt Menschen unterschiedlicher Herkunft ein, sich wiederzufinden und miteinander zu sprechen, ohne sie auf ein Land oder eine Sprache festzulegen. Er schafft also Gesprächsräume und Sicherheit: Zu einer Konferenz für „Post-Ost“ geht man sowohl als Ukrainer:in, Georgier:in, Spätaussiedler oder eben auch Russ:in hin, ohne sich fehl am Platz, fremd oder ausgeschlossen zu fühlen. In den Medien und der Mehrheitsgesellschaft greift man immer noch auf alte Etiketten zurück, die sich vor Jahrzehnten etabliert haben.

Ausblick: Sprache und Zukunftsarbeit

„Post-Ost“ ist kein endgültiger Begriff: Denn auch er kann die ganze Komplexität des postsowjetischen Raums mit vergangenen Traumata und aktuellen Kriegen nicht vollständig abbilden. Er ist Teil einer Suche nach neuen Formen der Zugehörigkeit, nach Traumabewältigung und dem Ablegen imperialistischer Narrative. Dieser Prozess ist aber nicht nur für Post-Ost Migrant:innen wichtig, sondern auch für die deutsche Gesellschaft, die sich immer noch nicht von Ost-West Schablonen befreit hat.

Der Begriff bietet für Medien die Chance, postsowjetische Diversität endlich sichtbar zu machen, ohne sie zu simplifizieren. Für die Wissenschaft kann es ein Impuls sein, Identität nicht entlang nationaler Linien, sondern entlang gemeinsamer Erfahrungen von Transformation und Migration zu denken.

Und vielleicht ist das die eigentliche Bedeutung von „Post-Ost“: Es ist der Anfang eines Dialogs auf Augenhöhe für Menschen, die zwischen Systemen aufgewachsen sind. Für die deutsche Gesellschaft ist es zudem die Chance, Post-Ost Migrant:innen in ihrer ganzen Komplexität und Diversität wahrzunehmen und damit auch effektivere Integrationschancen zu schaffen.

Quellen: