Gibt es ein Neutralitätsgebot?  

Autor:In: Zoë Schütte

Datum: 02.12.2025

  • Demokratie
  • Haltung
  • Grundlagen
  • Kurz erklärt

Bis heute gilt das Ergebnis mit seinen drei Prinzipien, nämlich dem Überwältigungsverbot, dem Kontroversitätsgebot und der Schüler:innenorientierung, als Grundpfeiler der politischen Bildung für den Schulkontext, aber auch darüber hinaus.   

a. Überwältigungsverbot:

Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.  

b. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen:

Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d.h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.  

Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.  

c. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, … sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist.

Der in diesem Zusammenhang gelegentlich – etwa gegen Herman Giesecke und Rolf Schmiederer – erhobene Vorwurf einer „Rückkehr zur Formalität“, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.  


      
    Quelle: bpb: “Beutelsbacher Konsens”.Original: Hans-Georg Wehling (1977): Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. In: Siegfried Schiele / Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart, S. 173-184.  

    Der Begriff „Neutralitätsgebot“ taucht hier allerdings gar nicht auf. Stattdessen folgt die häufig von rechtsextremen und rechtspopulistischen Akteur:innen geforderte „Neutralität“ einer fehlgeleiteten Interpretation. Zwar wird gefordert, dass keine Meinungen aufgezwungen, die Debatten aus Wissenschaft und Politik kontrovers dargeboten und Beteiligte befähigt werden sollen, die eigene Position herauszubilden und sich aktiv zu beteiligen. Dies bezieht sich aber in erster Linie auf eine parteipolitische Neutralität mit Blick auf die Un- beziehungsweise Überparteilichkeit. Politische Bildung darf sich also nicht in Form von Benachteiligung oder Bevorzugung von bestimmten Parteien, beispielsweise durch (Nicht-)Wahlempfehlungen, äußern.   

    Es bedeutet allerdings nicht, dass sich politische Bildung „neutral“ gegenüber den demokratischen Grundsätzen verhalten soll. Ganz im Gegenteil: Das Demokratiegebot (Artikel 20 GG) und das Grundrecht auf Gleichbehandlung (Artikel 3 Abs. 3 GG) sind Leitlinien, die die Arbeit von Pädagog:innen, Lehrkräften oder politischen Bildner:innen maßgeblich bestimmen. Sie sind laut Grundgesetz dazu angehalten sich aktiv gegen Diskriminierung und antidemokratische Tendenzen stark zu machen.  

    Besonders im Schulkontext wird das Neutralitätsargument oft als Vorwand genutzt, Lehrkräften vermeintliche Grenzen bei der klaren Positionierung gegen menschenverachtende und rechtsextreme Einstellungen bestimmter Parteien zu setzen. Verunsicherungen bezüglich der Bedeutung des Beutelsbacher Konsens führen dazu, dass beispielsweise schulische Aktionen, die sich für Diversität und Geschlechtergerechtigkeit einsetzen, erst gar nicht umgesetzt werden.  

     Tatsächlich ist beispielsweise im Schulgesetz des Landes Berlin festgeschrieben, dass das „Ziel (…) die Heranbildung von Persönlichkeiten sein (muss), welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten“ (§ 1 SchulG, Land Berlin). Demnach sind Schulen ein Ort, an dem sich aktiv für die Demokratie und die damit verbundenen Werte eingesetzt werden soll.  

    Ähnliches gilt auch für zivilgesellschaftliche Organisationen, die finanzielle Unterstützung durch Bundesprogramme oder andere staatliche Fördermittel erhalten. Eine Förderung ist nämlich nicht gleichzusetzen mit der Arbeit im Auftrag des Staates. Für Vereine, Initiativen und Co. gilt vor allem das Gemeinnützigkeitsrecht, dass unter anderem sicherstellt, dass Parteien weder direkt noch indirekt durch beispielsweise finanzielle Mittel, Wahlempfehlungen oder Kampagnenarbeit begünstigt werden. Parallel dazu können gemeinnützige Organisationen den in ihrer Satzung vereinbarten Zielen nachgehen, denn auch hier gilt die vom Grundgesetz geschützte Meinungs-, Kommunikations- und Versammlungsfreiheit.

    Zwar kann die Vergabe öffentlicher Projektmittel an thematische Schwerpunkte gekoppelt sein, andere Aktivitäten, die vor dem Hintergrund der Satzung durchgeführt werden, bleiben dadurch aber unberührt. Der politische Einsatz für Diversität, Minderheitenschutz oder Gleichberechtigung genauso wie eine sachliche und wahrheitsgemäße Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus oder Queerfeindlichkeit sind Aufgaben zivilgesellschaftlicher Akteur:innen innerhalb einer demokratischen Gemeinschaft.  

    Neutralität ist weder synonym mit Haltungslosigkeit zu verstehen noch durch den Beutelsbacher Konsens legitimiert. Von Neutralität als Prinzip der schulischen und politischen Bildung zu sprechen, birgt die Gefahr, dass der Einsatz für demokratische Werte in Frage gestellt wird. Dabei  sind das Bildungswesen genauso wie zivilgesellschaftliche Initiativen wichtige Pfeiler zur Stärkung eines demokratischen Miteinander bei.