In Kürze: Denken und Bewegung gehören zusammen, das wussten schon die großen Denker Nietzsche und Rousseau. „Nur die ergangenen Gedanken haben Wert“, sagte Friedrich Nietzsche. „Ich kann nur im Gehen denken“, sagte Jean-Jacques Rousseau. So weit, so einleuchtend. Aber ist das Gehen auch bei Gesprächen hilfreich?
Diese Frage stellte sich im Sommer auch Friederike Bliss vom Förderverein Akademie 2. Lebenshälfte im Land Brandenburg e.V. Als sie sich bei uns meldete und fragte, ob wir von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. uns vorstellen könnten, in der Kreisstadt Luckenwalde eine Wertewanderung zu begleiten, sagten wir sofort zu. Wertewanderung – schon das Wort strahlte Energie aus. Dahinter steckte das Anliegen, den Menschen in der Stadt einmal etwas anderes zu bieten als klassische Bildungsformate in Seminarräumen. Die Idee war, dass ganz unterschiedliche Menschen aus Luckenwalde und Umgebung beim Spaziergang durch die Stadt darüber diskutieren, welche Werte ihnen für das Zusammenleben wichtig sind. Ein Ziel war es, sich auf diese Weise mit den Perspektiven der anderen Teilnehmenden auseinanderzusetzen. Veranstalter waren neben der Akademie 2. Lebenshälfte die Evangelische Erwachsenenbildung, die Stadt Luckenwalde und die Volkshochschule des Landkreises Teltow-Fläming.
Nur 15 Werte dürfen bleiben
Die Wertewanderung starteten wir an einem Freitagnachmittag im Oktober im Sitzungssaal des Kreishauses.
Gekommen waren vor allem Erwachsene im mittleren und höheren Alter. In einem kurzen Einstieg sprachen wir darüber, was wir meinen, wenn wir von Werten reden. Werte leiten uns zwar durch den Alltag, doch geschieht das oft unbewusst. Anschließend teilten wir an alle Anwesenden ein Blatt mit einer Liste von 25 Werten aus. Wir hatten die Auswahl nicht selbst erstellt, sondern auf bestehende Materialien zurückgegriffen und in Rücksprache mit den Veranstaltenden modifiziert. Dazu gab es eine erste Aufgabe: „Streichen Sie zehn Werte, auf die Sie verzichten könnten. 15 dürfen bleiben.“ Damit ging die Wanderung los.

Foto: Friederike Bliss
Insgesamt hatten wir vier Etappen mit strategischen Haltepunkten an bestimmten Stellen in der Stadt eingeplant. Nachdem die Teilnehmenden die ersten zehn Werte gestrichen hatten, ging es in Dialogen zu zweit weiter: Im Gehen sprachen sie darüber, wie es für sie war, sich von bestimmten Werten zu verabschieden und andere beizubehalten. Sie fragten einander, bei welchen Werten das Streichen wehtat und bei welchen nicht. Wie war das Empfinden bei Sicherheit? Humor? Erfolg? Schönheit? Familie? Gerechtigkeit? Warum sind uns bestimmte Werte wichtiger als andere?
Unterschiedliche Bilder im Kopf
Schon in diesem ersten Schritt wurde deutlich, dass bei den Menschen unterschiedliche Bilder im Kopf auftauchen, wenn sie Werte wie „Gleichberechtigung“ oder „Schönheit“ hören. Geht es bei Gleichberechtigung um die Emanzipation von Mann und Frau – oder um Generationengerechtigkeit? Sind mit Schönheit Äußerlichkeiten gemeint oder das Schöne im Leben, Blumen im Garten oder Kunstwerke, die Mut und Hoffnung geben? Über die Gespräche darüber lernten die Menschen einander besser kennen.
An der nächsten Station wurden kleine Gruppen gebildet. Nun mussten die Teilnehmenden die eignen gewählten Werte neu sortieren und aushandeln. Es galt, sich in Kleingruppen auf gemeinsame Werte zu einigen, die unbedingt bleiben sollten. Die Diskussionen gingen lebhaft weiter. Pro Station wurden die Gruppen weiter vergrößert und die Anzahl der gemeinsamen Werte weiter verkleinert. An einem nächsten Haltepunkt, dem örtlichen Treffpunkt „Open Eck“, wo verschiedene Aktivitäten für die Stadtbevölkerung wie Schreibtreffs, Workshops, Spieleabende oder eine Reparaturwerkstatt angeboten werden, gab es Gelegenheit zum Aufwärmen und zu einem gemeinsamen Kaffee. Automatisch wurde das Team des Open Eck dynamisch in die Gespräche einbezogen.
Überhaupt fiel unsere Gruppe in der Stadt auf. Mehrere Leute fragten, was wir machten, und waren erstaunt über unsere Antwort. Ein Haltepunkt war das Luckenwalder Kino. Der Betreiber kam spontan heraus und schenkte uns eine große Tüte Popcorn, die wir miteinander teilten. Durch die Wanderung strahlte die Veranstaltung so über die teilnehmende Gruppe hinaus auf die Stadt aus.

Foto: Lisa Schütze
Die letzte Station war die Kirche. Dort resümierten die Teilnehmenden anhand dreier Fragen, wie sie die Wertewanderung erlebt hatten. Ihre Antworten hielten wir auf Pinnwänden fest. Einige waren überrascht, dass es mehr Gemeinsamkeiten gab als gedacht und sich einige Konfliktlinien als gar nicht so scharf erwiesen wie vermutet. Andere waren irritiert, dass Werte, die ihnen selbst wichtig waren, etwa Glaube oder Familie, für andere eine geringe oder gar keine Rolle spielten. Die Gespräche darüber verdeutlichten, dass es von der eigenen Sozialisation und den Erfahrungen abhängt, welche Werte jeweils im Mittelpunkt stehen. Was nicht heißt, dass andere Werte keine Bedeutung hätten. Immer wieder im Leben kommt es außerdem zu Dilemmata, bei denen es gilt, verschiedene Werte gegeneinander abzuwägen und auszuhandeln. Nach dem gemeinsamen Abschluss gab es zum Ausklang Kuchen, Tee und Kaffee.
Mögliche Varianten
Wir als Mitarbeiterinnen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. moderierten den Prozess, verteilten die Aufgaben, mischten die Gruppen neu, brachten unsere Beobachtungen ein und sammelten am Ende die Ergebnisse. Unser Fazit war am Ende klar: Ja, das Gehen ist auch bei Gesprächen hilfreich. Dabei können wir uns für eine Wertewanderung viele Varianten vorstellen. Auch Folgetermine wären denkbar – oder eine stärkere Einbeziehung des Ortes und seiner Geschichte in die Gespräche.
Am eindrücklichsten war für uns, wie sehr dieses Format von zwei Ebenen lebt: von der Diskussion und der Reflexion über die eigenen Werte auf der einen Seite – und der Resonanz vor Ort auf der anderen. Nicht nur während der Wanderung, auf der Straße, am Kino oder im Open Eck, auch schon vorher, etwa als Friederike Bliss von der Akademie 2. Lebenshälfte in der Stadt Flyer verteilte. Und später, nach der Wanderung, wurden sicher Fragen gestellt: „Wie war denn eure Wertewanderung?“ – vielleicht an der Supermarktkasse, vielleicht im Café.
Für uns war die Wertewanderung in Luckenwalde ein Experiment. Eines, das Mut zum Weitergehen macht.
Autorinnen
Elisabeth Gliesche ist wissenschaftliche Referentin bei Gegen Vergessen –
Für Demokratie e. V.
Larissa Bothe ist Fachgruppenleiterin für Jugendbildung und Kompetenzstärkung
bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.